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3.

Gefährlich ists den Leu zu wecken.
Verderblich ist des Tigers Zahn;
Doch der schrecklichste der Schrecken
Ist der Mensch in seinem Wahn.

Schiller

In der Pavianstraße steht ein hohes altmodisches Haus, das vielleicht schon den Einzug der Schweden mitangesehen, in welchem gar verschiedene Arten von Menschen wohnen. Jedes Fensterlein ist besetzt vom Dachgiebel bis zu den Kellerlöchern, und es müßte ein wunderbarer Anblick sein, alle diese Menschen, vom Hafenbinder an, der unter den Ziegeln horstet, bis zum Salzstößler, der die Regionen um den Keller behauptet, mit ihren Familien auf einem Haufen versammelt zu sehen. Welchein Gemisch von Trachten, Physiognomien und Dialekten würde sich da zeigen und mancher Künstler dürfte vielleicht hier finden, was er vergebens in Bierkneipen und Trödelbuden, in Schnapsstübchen und Wursthäusern für seine Staffelei gesucht. Von allen Bewohnern des Hauses ist jedoch unstreitig am merkwürdigsten ein Schneiderlein mit seiner Familie, nicht so fast wegen der Kunstfertigkeit seiner Nadel, als vielmehr wegen seiner Figur, seinem Benehmen, und der Gabe, Alles zu wissen, über Alles zu raisonniren, jeden Vortheil sowohl im Spiel als in Raufereien los zu haben, überall gewesen zu sein, Jedermann überlisten zu können, Gott und den Teufel nicht zu fürchten und Staat und Religion reformiren zu wollen. War doch das kleine bleiche Männlein mit seinen stahlgrauen Haaren weit herumgekommen in der Welt in früheren Zeiten, und hat mit mancher Jungfer Schwester geliebäugelt, und mancher grobe Bauernhund hat in seinen Stock gebissen oder das Kittelein ihm zerfetzt, und er weiß manches Kloster zu nennen, wo treffliche Kapuzinersuppe und köstliches Schwarzbrod den Gebrüdern Vagabundus gereicht wird, und manches Bauernhäuslein ist ihm bekannt, wo man umsonst auf duftendem Heu oder rauschendem Stroh beherbergt wird. Und, wie kennt sich der kleine Mann in seinem wolligen Röcklein erst in der deutschen Belletristik aus? Mögen sich Andere rühmen, gelesen zu haben die Mysterien von Paris, oder den ewigen Juden und andere Abenteuerlichkeiten, oder Romane von Spindler und Spieß und Kramer, Novellen von Tieck und Goethe und anderes schöngeistige Geschreibe, das heißt ihm nichts; aber die abenteuerliche Historie von der schönen Magelone und vom Doktor Faust, die witzigen Streiche von Till Eulenspiegel und die gräßlichen Thaten vom Schinderhannes und bayerischen Hiesel, die anmuthige Legende von Fortunatus mit dem Glücksseckel und dem Wünschhütlein, und ähnliche treffliche Marktbüchlein ziehen seinen Geist an; diese sind seine Lektüre, und er und sein Töchterlein, welche ihm diese Geschichten bei der Arbeit vorliest, bedauern gar sehr, daß sie so spät in die Welt gekommen, zu einer Zeit, da jene glücklichen Tage verflogen, in denen Quellnymphen und Feen an die Wiege der Kinder traten, sie aus der Taufe hoben, und drei Wünsche zu bitten erlaubten; wo der Nibelungenhort versenkt wurde, und Bettlerinnen zu Königinnen erhoben worden sind. Manche süße Stunde verträumten diese zwei harmlosen Leutchen in jenen Schlaraffenländern, und denken sich Prinz und Prinzessin, Ritter und fahrende Ritterin, und oft läßt der Vater unmuthig die Nadel fahren, wenn er hört, wie dort Alles Geld gehabt und lustig gelebt, und er muß sich jetzt schinden und plagen um sein

bischen Brod, und in jenen Zeiten wäre er sicher ein Paladin geworden oder an König Arthurs Tafel ein berühmtes Mitglied. Gerade das Gegentheil vom Schneiderlein und seiner Tochter ist die Frau. Sie findet größeren Gefallen an der nackten Wirklichkeit, und fühlt sich behaglicher bei Bier und Wurst, und macht auch nicht den geringsten Versuch, den Idealen ihres Gemahls und ihrer Fräulein Tochter nachzufliegen; zwar mag dies auch daher kommen, weil die Flügel ihres Geistes ziemlich erlahmt sind, und überhaupt ihr nur die sichtbare Wirklichkeit zum Aufenthalt angewiesen worden. Trotzdem hat sie einen ungeheuren Respekt vor dem Alles erfassenden Geiste ihres Mannes, der ihr oft Stundenlang vorraisonnirt, und ihr zeigt, was Rechtens ist, und nur, wenn er in rauchigen Wirthsstuben politisirt, wagt sie es, mit Fräulein Tochter auch einige Mäßlein auf sein ferneres Wohl zu trinken.

Noch muß ich, um das Bild dieser Familie ganz auszumalen, hinzufügen. daß das Töchterlein, etwa siebenzehn Jahr alt, eine Schönheit zweiten Ranges sich däucht, obgleich ihr ein Auge in der Bataille mit den Blattern verloren gegangen, und ihr Wuchs also beschaffen ist, daß, wenn man einem Aefflein in ihre Garderobe Zutritt gestattete, und sein Gesichtlein mit Kalk anweißete, der Unterschied kaum merkbar wäre. Sie ist noch nicht über alle Vorurtheile, die in Schulen eingeimpft werden hinaus, hat aber eine bedeutende Portion Hochmuth und Eigendünkel, und stolzirt wie eine Noblesse durch die Straßen, und rümpft gar oft das zarte Spitznäschen über das elendige Bettelgesindel; nur Schade ist es, daß sie wegen ihrer Duodezfigur nicht bemerkt wird, was sie gar sehr ärgert, und Leuten bei jeder Gelegenheit zu erkennen gibt, welche über das naseweise Kind lachen und spotten.

Empfohlene Zitierweise:
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 2). Braun & Schneider, München 1846, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_2.djvu/135&oldid=- (Version vom 26.10.2021)