Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10 | |
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daß er so spät von Fräulein Müller bestellt worden sei. Sie habe darauf versetzt: Na, dann gehe doch nicht hin. Der Bruder habe aber geantwortet: Dann denkt vielleicht Fräulein Müller, ich bin feige. – Es erschien darauf als Zeuge Hausdiener Erich Reimann, der Bruder des Erschossenen, ein 16jähriger, körperlich sehr entwickelter, sehr hübscher junger Mann. Er soll dem Erschossenen sehr ähnlich sehen, nur soll der Erschossene noch bedeutend hübscher als dieser gewesen sein. Der Zeuge erzählte in gewählter Sprache auf Befragen des Vorsitzenden: Sein Bruder war wahnsinnig in Fräulein Müller verliebt. Sein Bruder habe ihm geschrieben, er wolle nicht allein zum Rendezvous gehen, er solle mitkommen, er werde ihn am Bahnhof Tiergarten erwarten. Er (Zeuge) sei pünktlich am Bahnhof Tiergarten gewesen und aus Neugierde mitgegangen. Sein Bruder und Fräulein Müller hätten sich zwar nicht begrüßt, aber freundschaftlich die Hand gereicht. Sehr bald sei es zwischen beiden zum Streit und Ringen gekommen. Fräulein Müller wollte seinem Bruder einen Brief entreißen und verlangte außerdem den Hausschlüssel. Er habe etwas entfernt gestanden. Plötzlich habe aber die Angeklagte ihn bemerkt und zu ihm gesagt: Gehe nach Hause, morgen kommt dein Baron! – Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann: Wer war denn der Baron? – Zeuge: Das war ein Engländer. – Vert.: Wie alt war der Herr? – Zeuge: Etwa 30 Jahre. – Vert.: Es ist ein besserer Herr? – Zeuge: Ja. – Vert.: Sie sind homosexuell veranlagt? – Vors.: Herr Rechtsanwalt, wir können unmöglich jeden Zeugen fragen, ob er homosexuell veranlagt ist, ich kann diese Frage nicht zulassen. – Vert.: Der Herr war Ihr Freund? – Zeuge: Ja. – Vert.: Ist Ihnen vielleicht bekannt, ob Ihr erschossener Bruder anormal veranlagt war? – Zeuge: Das weiß ich nicht. – Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Er habe sich auf die Aufforderung von Fräulein Müller entfernt. Sein Bruder habe niemals Selbstmordgedanken geäußert, er könne
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/236&oldid=- (Version vom 19.2.2023)