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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10

Sachverständiger Geh. Medizinalrat Dr. Kortum,

dirigierender Arzt der Anstalt Dalldorf: Er habe die Angeklagte vom 26. Juli bis 7. August in Dalldorf zur Beobachtung gehabt. Auf Grund dieser Beobachtung und der Ergebnisse dieser Verhandlung sei er zu dem Schluß gekommen, daß die Angeklagte eine hysterische Person sei, die zurzeit nicht als geisteskrank und unzurechnungsfähig anzusehen sei. Er stimme aber mit Dr. Cohn darin überein, daß sie zu der Zeit, als die beiden letzten Schüsse fielen, sich in einem Zustande befand, der die freie Willensbestimmung ausschloß. Er gebe die bedingte Möglichkeit zu, daß sich die Angeklagte beim Abgeben der letzten beiden Schüsse in einem Dämmerzustande befunden habe – vorausgesetzt, daß ihre Darstellung der Vorgänge wahr sei; er halte sie für wahr. Diese seine Erwägung sei durch die mit der medizinischen Erfahrung übereinstimmende Tatsache unterstützt, daß sie, als sie aus dem Dämmerzustande beim Erscheinen der drei ersten Zeugen erwachte, an den Augenblick anknüpfte, wo das Bewußtsein zu dämmern anfing, denn das erste, was sie sagte, war: Er hat mich geschossen! Ein normaler Mensch würde in solcher Situation nicht geistesabwesend dastehen und zunächst nichts antworten, sondern man würde Entsetzen und Verzweiflung in seinen Mienen lesen. Auch die Tatsache, daß sie am nächsten Tage den Zeugen Tuchel, der am Abend vorher nach dem Vorgang lange Zeit mit ihr gesprochen, zunächst nicht wiedererkannte, spreche für den Dämmerzustand. Sollte die Voraussetzung der Wahrheit ihrer Angaben ausgeschlossen werden, so würde er (Sachverständiger) unter diesen Umständen keinen Ausschluß der freien Willensbestimmung, aber wohl eine verminderte Zurechnungsfähigkeit annehmen müssen. – Auf die Frage des Staatsanwaltschaftsrats Dr. Gysae, ob die Angeklagte als gemeingefährlich geisteskrank anzusehen sei, erklärte der Sachverständige, daß er auf die Frage zurzeit eine konditionelle Antwort nicht geben könne.

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/255&oldid=- (Version vom 5.3.2023)