Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10 | |
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Inspektors Rieß bewiesen? Ich frage: Wenn der verstorbene Rieß lebte und hier auf der Anklagebank säße, hätten Sie alsdann den Mut, auf Grund des vorgeführten Beweismaterials den Mann für schuldig zu erklären? Ich frage: Was ist gegen Rieß bewiesen worden? Eine Reihe einwandfreier Zeugen hat bekundet, daß Rieß ein braver, ordentlicher Mann, ein pflichtgetreuer Beamter von seltener Gutmütigkeit, ja von weichem Gemüt war. Frau Rieß hat uns tränenden Auges versichert, daß sie sich Vorwürfe mache, ihren Mann, der immer gut und liebevoll zu ihr war, irrtümlicherweise der ehelichen Untreue beschuldigt zu haben. Ich frage, ist auch nur mit eines Haares Breite bewiesen worden, daß Rieß der Mörder ist? Ganz abgesehen davon, daß eine Reihe von Zeugen hier bekundet haben: Rieß sei einer solch schrecklichen Tat nicht fähig, so entsteht doch die Frage: Hatte denn Rieß irgendeinen Beweggrund, seinen Prinzipal meuchlings niederzuschießen? Wir haben gehört, der ermordete Rosengart war ein böser Kumpan, der seiner Brutalität und seiner vielen Prozesse wegen viele Feinde hatte. Aber wir haben auch gehört, daß der verstorbene Rieß mit Rosengart in durchaus friedlicher Weise lebte. Von keinem Zeugen ist auch nur mit einer Silbe bekundet worden, daß zwischen Rieß und Rosengart jemals ein böses Wort gefallen ist. Es ist uns im Gegenteil bekundet worden: Der verstorbene Rosengart hatte den Rieß sehr lieb, er zog ihn oftmals zu Tisch, er brachte ihm volles Vertrauen entgegen, ja er hatte ihm für den 1. April eine Gehaltszulage von 150 Mark versprochen.
Nun könnte man sagen: Rieß gehört vielleicht zu den stillen Gewässern, von denen man sagt, daß sie tief seien. Es wird behauptet: Rieß habe seinen Prinzipal erschossen, weil er mit der Angeklagten ein Liebesverhältnis unterhielt. Der Herr Erste Staatsanwalt war so gütig, zuzugestehen, daß ein intimer Verkehr zwischen Rieß und der Angeklagten nicht nachgewiesen sei. Aber trotzdem habe ein Liebesverhältnis
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)