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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1

unverständliche Sprache spricht, nach Alkohol riecht und sehr erregt ist, dann sind Sie in der Lage, ihn für verrückt zu erklären? – Zeuge: Das war es nicht allein, es wurde mir außerdem mitgeteilt, daß sein Bischof geschrieben hatte: er sei schon seit vielen Jahren dem Trunke ergeben. – Vert.: Haben Sie den Brief des Bischofs gelesen? – Zeuge: Nein. – Vert.: Von wem wurde Ihnen Mitteilung von dem Schreiben des Bischofs gemacht? – Zeuge: Von den Anstaltsbrüdern. – Vert.: Haben Sie bei Ihrer Untersuchung einen Arzt zu Rate gezogen? – Zeuge: Nein, bloß die Anstaltsbrüder. – Vert.: Also die bloße Mitteilung von Anstaltsbrüdern, ehemaligen Schneidern, Schustern und Maurergesellen lassen Sie sich als Grundlage dienen, um einen Mann für verrückt zu erklären? – Zeuge: Der Mann war aber total betrunken und tobte. – Vert.: Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, daß der Mann einen augenblicklichen starken Rausch haben kann, dessen Wirkungen am folgenden Tage beseitigt sein können? – Zeuge: Mein Gott, der Mann war ja tobsüchtig. – Vert.: Haben Sie denn noch niemals gehört, daß betrunkene Leute, die auf die Polizeiwache gebracht waren, aus ganz natürlichem Freiheitsdrange die Fenster einschlugen? Kam Ihnen nicht der Gedanke, daß nur ein akuter Rausch vorhanden sein kann? – Zeuge: Nach den Mitteilungen der Brüder konnte ich das nicht annehmen. – Vert.: Dann ist es doch möglich, wenn ich zufällig in berauschtem Zustande ins Alexianerkloster gebracht, dort eingesperrt werde, und aus innerem Freiheitsdrange ein Fenster einschlage, Sie mich auch für verrückt erklären, wenn Ihnen nur ein ehemaliger Schuster- oder Schneidergeselle sagt: der Rechtsanwalt Lenzmann ist schon seit langer Zeit dem Trunke ergeben? – Zeuge: Diese Frage finde ich etwas komisch. – Vert.: Herr Geheimrat, ich bin weit entfernt, hier komische Fragen zu stellen, die Sache ist mir bitterer Ernst. Nach dem, was wir hier von Ihnen gehört haben, ist es zweifellos möglich, jeden beliebigen Menschen für geistesgestört zu erklären

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1. Hermann Barsdorf, Berlin 1910, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_1_(1910).djvu/105&oldid=- (Version vom 12.12.2022)