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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2

der Täter sein könne. Er sei wohl von verschrobenen anarchistischen Gedanken erfüllt, man könne aber nicht ohne weiteres annehmen, daß der Sohn eines solch braven, ehrwürdigen Vaters ganz aus heiler Haut zum Verbrecher werde. Koschemann müsse nach den Bekundungen der Zeugen spätestens gegen 9 Uhr abends in Weißensee gewesen sein. Mit Rücksicht auf den Eisenbahnfahrplan sei es unmöglich, daß er die Kiste in Fürstenwalde aufgegeben habe, er müßte denn wie Phileas Fogg in der „Reise um die Welt in 80 Tagen“ ohne jeden Aufenthalt von der Eisenbahn zum Dampfschiff und umgekehrt geeilt sein. Er (Vert.) ersuche die Geschworenen mindestens ein Non liquet auszusprechen. –

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schöps: Berufsrichter haben ein Urteil mündlich und schriftlich zu begründen, bei den Geschworenen heißt es „Ja ja“ oder „Nein nein“. Was darüber ist, ist vom Übel. Dies entbindet aber nicht die Geschworenen von der Verpflichtung, genau und gewissenhaft zu prüfen, bevor sie ihren Wahrspruch abgeben. Zur Sache muß ich bemerken, das Attentat war weder auf den Polizeioberst Krause abgesehen, noch ist es von Berliner Anarchisten ausgegangen. Der ganze Apparat war im übrigen so hergestellt, daß er den angeblich beabsichtigten Zweck erfüllen konnte. Polizeioberst Krause ist gar keine politische Persönlichkeit; es wäre etwas anderes gewesen, wenn Kriminalkommissar Bösel das Opfer hätte werden sollen. Der Verteidiger wies im weiteren auf die vielen Widersprüche der Zeugen hin, als diese die Merkmale der verdächtigen Person in Fürstenwalde und auf dem Schlesischen Bahnhof beschreiben sollten. So viele Aussagen, so viele Widersprüche. Es stehe schlecht um eine Anklage, in der seitens der Staatsanwaltschaft so schwache Verdachtsmomente ins Gefecht geführt werden. Fast sämtliche Zeugen hatten den Eindruck, daß sie eine Frau in Männerkleidung gesehen haben. Wenn man Koschemann in Frauenkleidung steckte, dann würde er trotz seines mädchenhaften Gesichts aussehen wie ein verkleideter Mann. Die verdächtige Person

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_2_(1911).djvu/201&oldid=- (Version vom 1.8.2018)