Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3 | |
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mußten die stummen Vollstrecker ihrer kaum eingestandenen Wünsche sein. Ihre Liebe verlangte, daß man ihr opfere. Die schöne Circe, von der uns Homer erzählt, war von der schönen Gräfin Tarnowska weit in den Schatten gestellt. Sie begnügte sich nicht mit demütigen Beteuerungen, mit lauten Schwüren, sie bestand auf Taten. Man mußte stehlen und betrügen um ihretwillen, das war die Probe. Als sie kaum 14 Jahre alt war, engagierte der Vater für sie und ihre Schwester eine Pariser Bonne. Die Eltern wohnten zur Zeit in Kiew. Oftmals, wenn die Eltern längst schliefen, verschwand die Bonne mit ihren beiden Schützlingen durch eine Hintertür. Das Dienstpersonal, das mit einigen Rubeln abgefunden wurde, beobachtete strengstes Stillschweigen. Die ersten Sonnenstrahlen drangen bisweilen schon ins Schlafzimmer, wenn die Bonne mit den beiden Mädchen heimkehrte. Wo die Damen die Nacht verlebt hatten, wurde nicht bekannt. Aber eines Tages wurde der alte Adelsmarschall durch ein anonymes Schreiben benachrichtigt, daß die in seinen Diensten stehende Pariser Bonne eine – berüchtigte Pariser Kokotte sei. – Als Baron Stahl noch der bevorzugte Anbeter der verführerischen Gräfin war, besuchte sie mit diesem eines Abends in Kiew ein Café chantant, das aus Anlaß der kostspieligen Exzesse, die dort stattfanden, berüchtigt war. Baron Stahl und die Gräfin saßen in einer Loge. Sehr bald gesellten sich mehrere Freunde zu dem Paar. Die Gesellschaft begab sich in eine Chambre separée. Dort floß der Sekt sehr bald in Strömen. Die Tarnowska, in elegantester Toilette, tat es im Trinken allen zuvor. Plötzlich erhob sie sich und begann Gedichte zu deklamieren. Es waren melancholische Verse des schwindsüchtigen Dichters Nadson. Dann brach sie ab und sang ein heiteres Lied. Schließlich sprang sie auf den Tisch und tanzte abwechselnd russische Volkstänze und Kankan, wobei sie sich überaus geschickt zwischen den Gläsern und Flaschen bewegte, ohne sie umzustoßen.
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/15&oldid=- (Version vom 21.12.2022)