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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3

das Urteil auf und verwies die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Konitz. Dort wurden nach nochmaliger siebentägiger Verhandlung sämtliche Angeklagte freigesprochen. – Das freisprechende Urteil wurde in Neustettin mit einem Krawall beantwortet. Ganz besonders wurden die freigesprochenen Angeklagten, als sie von Konitz nach Neustettin zurückkehrten, vom Neustettiner Pöbel arg behelligt. Während bei der ersten Verhandlung in Köslin mehrfach antisemitische Kundgebungen laut wurden, es ertönten sogar laute Hepp-Hepp-Rufe von der Straße während der Verhandlung in den Gerichtssaal, war bei der im Februar 1884 in Konitz stattgefundenen zweiten Verhandlung von Antisemitismus keine Spur zu entdecken. Nachdem das Ritualmordmärchen in dem im Juli 1892 vor dem Schwurgericht zu Cleve stattgefundenen Xantener Knabenmordprozeß aufs gründlichste widerlegt war, (vgl. Bd. 1. p. 67ff.) hielt man allgemein diese aus dem finstersten Mittelalter stammende Blutbeschuldigung für vollständig abgetan. Da plötzlich, am Dienstag, den 13. März 1900, wurde in Konitz in einem in nächster Nähe der Synagoge befindlichen Bach, genannt der „Mönchssee“, an der „Spüle“ ein angeblich vollständig blutleerer menschlicher Rumpf, in Zeitungspapier eingehüllt, gefunden. Kopf, Hände und Beine fehlten. Letztere waren von den Knien ab kunstgerecht abgeschnitten. Es war begreiflich, daß dieser Fund in dem damals 12 000 Einwohner zählenden westpreußischen Kreisstädtchen das größte Aufsehen erregte. Der Befund des Leichnams ließ auf eine jugendliche männliche Person schließen. Es wurde auch sehr bald festgestellt, daß es sich um den Rumpf des seit einigen Tagen vermißten Obertertianers Ernst Winter handelte. Winter, der Sohn eines Bauunternehmers aus Prechlau bei Konitz, war, obwohl bereits 18½ Jahre alt, erst in Obertertia. Er hatte nämlich schon einmal das Gymnasium verlassen und 3½ Jahre das Zimmerhandwerk erlernt. Diese Beschäftigung muß ihm wohl nicht behagt haben, denn er

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/84&oldid=- (Version vom 29.1.2023)