Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6 | |
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Es gereicht unserem fortgeschrittenen Zeitalter keineswegs zur Ehre, daß selbst das Publikum, das auf Bildung Anspruch macht und sich zu den sogenannten besseren Gesellschaftsklassen rechnet, Leute, die die Befugnis haben, ihrem Namen das Wörtchen „von“ vorzusetzen, oder sich gar Baron, bzw. Freiherr oder Graf zu nennen, als etwas Höheres betrachten. Das Wort „Bürgerstolz“ wird wohl vielfach im Munde geführt, es ist aber in Wahrheit nur selten vorhanden. Früher konnte von den Gerichten auch auf Verlust des Adelsprädikats erkannt werden, diese Strafe ist im Interesse des Ansehens der Bürger seit sehr langer Zeit aufgehoben. In den verschiedenen Revolutionen ist der vergebliche Versuch unternommen worden, den erblichen Adel abzuschaffen. Wenn das Wort „noblesse oblige“ (Adel verpflichtet) Wahrheit wäre, dann würde gewiß niemand gegen das Fortbestehen des Adels etwas einzuwenden haben. Allein eine Reihe Gerichtsverhandlungen der letzten Jahre haben bewiesen, daß der Adel vor dem Bürgertum in sittlicher Beziehung nicht das mindeste voraus hat. Ich bin entfernt, den gesamten Adelsstand, der zweifellos im allgemeinen ebenso achtbar ist wie der Bürgerstand, für Ausschreitungen Einzelner verantwortlich zu machen. Die dem Adel eingeräumten Vorrechte widersprechen aber jedenfalls den modernen Anschauungen. Ein Zeichen kultureller Rückständigkeit
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/147&oldid=- (Version vom 5.1.2023)