Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6 | |
|
über sie gebracht. Naturgemäß hoffte sie auf ein milderes Urteil oder wenigstens auf Gnade, aber gleichzeitig faßte sie doch den ungünstigsten Ausgang ins Auge. Und je näher die Todesstunde kam, desto ruhiger und gefaßter wurde die Verurteilte. Sie hatte, wie ich behaupten kann, ihr geschwundenes Gottvertrauen und ihren Glauben an Vergebung ihrer Schuld durch den höchsten Richter wiedergefunden. In ihrer Seele erwachte in der Einsamkeit des Gefängnisses immer mehr und mehr die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit ihrem über alles geliebten Vater. Der Geistliche fand für seine warmen Trostesworte ein offenes Ohr und Herz. Ihre letzten Abschiedsworte an mich waren nach heißen Dankesbezeugungen nicht ein Lebewohl, sondern sie sagte wörtlich: ‚Auf Wiedersehen dereinst.‘ Dieses große Gottvertrauen und diese Seelenruhe befähigten sie auch, an der dichtgedrängten Menge der Zuschauer vorüber, ruhigen, festen Schrittes die Richtstätte zu betreten.“
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/326&oldid=- (Version vom 1.8.2018)