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Das natürliche Verderben
des Menschen.

Wer bin ich von Natur, wenn ich mein Innres prüfe?
     O wie viel Greul läßt mich mein Herze sehn!
Es ist verderbt; darum verbirgt mirs seine Tiefe,
     Und weigert sich, die Prüfung auszustehn.

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Der Weisheit erster Schritt ist seine Thorheit kennen;

     Und diesen Schritt, wie oft verwehrt mirs ihn!
Voll Eigenlieb und Stolz will sichs nicht strafbar nennen,
     Der Reu entgehn, doch nicht den Fehler fliehn.

Wahr ists, ich find in mir noch redendes Gewissen,

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     In der Vernunft noch Kenntniß meiner Pflicht.

Ich kann mein Auge nie der Tugend ganz verschließen,
     Und oft scheint mir ein Stral von ihrem Licht.

Doch schwaches Licht, das mir den Reiz der Tugend zeiget,
     Und vom Verstand nicht bis zum Herzen dringt!

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Vergebens lehret er, das Herz bleibt ungebeuget,

     Hat sein Gesetz und folgt ihm unbedingt.

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Geistliche Oden und Lieder. in der Weidmannischen Handlung, Leipzig 1757, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geistliche_Oden_und_Lieder-Gellert.djvu/60&oldid=- (Version vom 1.8.2018)