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     Erwacht ihr Trieb, dich zu bekämpfen:

So wach auch du, ihn früh zu dämpfen,
Eh er die Freyheit dir verwehrt.
Ihn bald in der Geburt ersticken,
Ist leicht; schwer ists, ihn unterdrücken,

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Wenn ihn dein Herz zuvor genährt.


     Oft kleiden sich des Lasters Triebe
In die Gestalt erlaubter Liebe,
Und du erblickst nicht die Gefahr.
Ein langer Umgang macht dich freyer;

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Und oft wird ein verbotnes Feuer

Aus dem, was Anfangs Freundschaft war.

     Dein fühlend Herz wird sichs verzeihen;
Es wird des Lasters Ausbruch scheuen,
Indem es seinen Trieb ernährt.

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Du wirst dich stark und sicher glauben,

Und kleine Fehler dir erlauben,
Bis deine Tugend sich entehrt.

     Doch nein, du sollst sie nicht entehren,
Du sollst dir stets die That verwehren;

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Ist drum dein Herz schon tugendhaft?

Ists Sünde nur, die That vollbringen?
Sollst du nicht auch den Trieb bezwingen,
Nicht auch den Wunsch der Leidenschaft?

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Geistliche Oden und Lieder. in der Weidmannischen Handlung, Leipzig 1757, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geistliche_Oden_und_Lieder-Gellert.djvu/76&oldid=- (Version vom 31.7.2018)