Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 625.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und erster Akt läßt sich Speners Wirken in Frankfurt a. M. ansehen, von 1666–1686, wo er ganz im Sinne der Schmalkaldischen Artikel mutua colloquia[1] der Suchenden und Gläubigen aus der Gemeinde, collegia pietatis[2] genannt, in seinem Hause und unter seiner Leitung, aber in den freieren Formen von Rede und Gegenrede, unter Zurücktreten klerikaler Lehrregentschaft zum großen Segen veranstaltete. Aber als er trotz der anfänglichen Angriffe, z. B. von Conr. Dilfeld, sich damit das Vertrauen auch der Obrigkeit erworben hatte, mußte er die Erfahrung machen, daß einige seiner werthesten Freunde, verzweifelnd an der Besiegbarkeit des Widerstandes der Welt in der Kirche gegen ernstliche Bekehrung, sich separatistischen Neigungen und Irrthümern zuwandten, was auf ihn die Rückwirkung hatte, die Hoffnung aufzugeben, daß Gott es auf eine Neubelebung der ganzen Kirche abgesehen habe und ihn als zu dem einzigen Auskunftsmittel, zu dem Grundsatz der ecclesiolae in Ecclesia[3] führte, aber auch noch vorsichtiger machte. In diese erste Zeit fallen sein Pia desideria[4] 1675 und seine Schrift vom geistlichen Priesterthum 1677, die auf dem Hintergrund eines über den Zerfall der Kirche schmerzbewegten Gemüthes einen Aufriß der Reformgedanken enthalten, von denen seine Seele erfüllt war, zwei classische, tief eingreifende Schriften, denen er 1684 zur Abwehr von separatistischen Ausartungen und Mißdeutungen „Der Klagen über das verdorbene Christenthum, Mißbrauch und rechter Gebrauch“ folgen ließ. 1686 zog er nach Dresden, wo er bis 1691 blieb.

Der zweite Akt des Drama von 1686 bis zur Gründung der Universität Halle zeigt die Bewegung, zu der Spener durch Schrift, Wort, Beispiel nur den Anstoß gegeben, in ihrem selbstständigen Fortgang. Da wurde offenbar, wie bereitet[5] der Boden in allen Gegenden Deutschlands durch Besitzen und Vermissen für das war, wozu er nur den Impuls gegeben. Das Volk bedurfte nicht mehr, wie Luthern gegenüber, erst mit der evangelischen Wahrheit bekannt gemacht zu werden, vielmehr durch die Wirkung der evangelischen Predigt, von der es intellektuell gesättigt war, verbreitete sich, nachdem Spener das Losungswort „des thätigen Christenthums“ gesprochen, unwiderstehlich der Drang, mit dem Glauben, den man bekannte, auch im Leben Ernst zu machen, damit nicht, wenn es bei dem bloß


  1. [„mutua colloqia“, lat.: gegenseitige Gespräche oder Unterredungen]
  2. [„collegia pietatis“, lat.: Gemeinschaften der Frömmigkeit]
  3. [„ecclesiolae in Ecclesia“, lat.: „Kirchlein in der Kirche“]
  4. [„Pia desideria“, lat.: „Fromme Wünsche“]
  5. Besonders durch Männer wie die oben S. 589 Genannten. [Dort sind Paul Gerhardt und in der Fußnote Johann Arndt, Heinrich Müller, Christian Scriver, Valentin Andreä, Johann Gerhard, Valerius Herberger und Timotheus Lütkemann aufgeführt.]
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_625.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)