Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 663.png

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bilden, der göttliche Autorität für sich in Anspruch nimmt, und willkürlich genug über den Schriftcanon verfügt, sowohl was seinen Umfang betrifft, indem fast alle Hagiographa im alten Testament, und im neuen Testament Alles außer den Evangelien und der Apokalypse wegfallen soll, als in Beziehung auf den Sinn der stehen bleibenden Schriften.

Dem schwedischen Bergrath, der einen tiefen Eindruck von der Einheit und inneren Harmonie der Welt hat, trotzdem daß sie durch die Sünde gestört ist, sowie von der engen, organischen Verkettung aller ihrer Glieder, war schon die Gleichgültigkeit der hergebrachten Theologie gegen die Natur ein großer Anstoß und er suchte für sie eine integrirende unentbehrliche Stelle im All, ja schon in den Grundkategorien des Seins, der Ontologie, im Gegensatz zu dem theologischen Spiritualismus und dem philosophischen Idealismus; und das war es, was Oetingern eine Zeit lang an ihm anzog. Die Natur ist ihm die Stütze des Alls, verleiht erst dem Geist und der Liebe ihren substanziellen Halt und ihre Basis. Sein lebendiges frommes Interesse war von dem Intellektualismus der Orthodoxie abgestoßen und verlangte nach einer realen Gemeinschaft Gottes mit der Welt, die er durch eine pantheistisch gefärbte Emanationstheorie sich denkend nahe zu bringen suchte. Darin wird auch der Grund seiner leidenschaftlichen Opposition gegen die hergebrachte Trinitätslehre zu suchen sein, denn allerdings war diese in eine auch die ökonomische Trinität herabsetzende, von ihr losgerissene und unerreichbare Transcendenz gerückt, indem wohl die Offenbarungstrinität in die göttliche, trinitarische Ewigkeit und Unveränderlichkeit versenkt, aber die Brücke nicht gefunden war, die von dieser zur Welt führte. Das ist um so wahrscheinlicher, da er die wahre Trinitätslehre, welche nicht eine Dreiheit von Personen, sondern eine Dreiheit der Person (des Einen Herrn) lehren müsse, eine köstliche Perle nennt, ja sie durch das All hindurchzuführen und so zu gestalten sucht, daß in ihr Gott und die Welt emanatistisch in Eins zusammengefaßt sind. Ein ethischer Zug endlich ist in seinem freilich auf Mißverstand des evangelischen Glaubensbegriffes beruhenden Gegensatz zur Rechtfertigungslehre nicht zu verkennen; er will die Liebe an Stelle des Glaubens gesetzt wissen, unter welchem er nur das historische Fürwahrhalten versteht. Sein Ethisches hat freilich etwas Oberflächliches durch jenen pantheistischen Zug erhalten. Denn da ihm das Wesen des Menschen, dem er übrigens Freiheit beilegt, göttlicher Art von Natur ist, so ist ihm die Lehre von dem

Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_663.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)