Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 668.png

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examiniren lassen und ist auch ordinirter Prediger geworden. Aber in der Scholastik der lutherischen Theologie finden sie etwas von sectenhafter Enge und suchen Herz und Blick derer, welche ihre Partikularkirche für die alleinige Kirche Christi ausgeben, zu erweitern. Indem die Brüdergemeinde so das Princip der innern Katholicität kräftig vertritt, das keine Partikularkirche verläugnen kann, ohne begrifflich oder innerlich, wie groß auch ihr Umfang sei, sectenhaft und separatistischen Geistes zu werden, hat die Brüdergemeinde eine große und heilige Mission für die evangelische Gesammtkirche erhalten, welche zu verkennen ein Hauptzeichen der falschen Kirchlichkeit ist. Sie hat wie eine stille priesterliche Jungfrau an ihrem Herde die heilige Flamme genährt in Zeiten weit verbreiteter Finsterniß in göttlichen Dingen und Erstarrung des Lebens. In der Innigkeit des Gefühls (das für liturgische Akte, heilige Dichtung und Musik sich fruchtbar erwies, allerdings aber den großen Kirchenstyl mehr in den Familienstyl umsetzte), in der Freude an dem Heilande der Welt schmolzen die Herzen der Gläubigen auch aus verschiedenen Confessionen so zusammen, daß sie auch nach einem Abbild ihrer innern Einheit in ihrem Gemeindeleben verlangten, und während der Pietismus mehr ernster Pädagog ist, so zeigt ihre nicht düstere, sondern still und sanft waltende Liebe positiv organisatorisches Talent und schöpferische Kraft. Die Liebe Gottes fühlen sie in Christo innigst nahe, menschlich gegenwärtig. In Christus, den sie als reinen Menschensohn feiern, weil nach Zinzendorf der Logos selbst in Maria sich erniedrigt hat, um menschlich in ihr wieder aufzuleben, fühlen sie den eigenen Pulsschlag der göttlichen Liebe. Innerlich freiwillig depotenzirter Gott ist Christus dem Zinzendorf in der Wirklichkeit seines Lebens ganz und gar nur Mensch, seit seiner Erhöhung aber Stellvertreter Gottes, gleichsam die ganze Trinität in ihm vereinigt. Am meisten feiern sie das Leiden des göttlichen Menschensohnes, wobei sie allerdings nicht selten in das Spielende gefallen sind. Subjectiv betonen sie, daß das Göttliche sich in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens, in das Gefühl herablasse. Selig in diesem frommen Gefühl, im Umgang mit dem Erlöser hat die Brüdergemeinde wenig Interesse für die Theologie; das Glaubensprincip treibt nach dieser Seite wenig Früchte.[1] Aber das frische, freudige Gefühl der Rechtfertigung


  1. Spangenbergs Idea fidei fratrum 1782 fördert die wissenschaftlichen Probleme nicht, temperirt im Gegentheil das Neue, was in Zinzendorf mehr gefühlsmäßig gährte als begrifflich ausgestaltet wurde. Dagegen in der neuesten Zeit beginnt die Brüdergemeine WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt sich auch in dankenswerther Weise an der Arbeit der evangelischen Theologie zu betheiligen. Vgl. Plitts Evangel. Glaubenslehre nach Schrift und Erfahrung, 2 Bde. 1863. 1864, welche manche Gedanken Zinzendorfs, besonders seine christologischen wissenschaftlich zu verwerthen sucht, auf die Trinität freilich das Bild der Familie so überträgt, daß kaum mehr ein Unterschied von Tritheismus übrig bleibt.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_668.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)