Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 082.jpg

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Da konnte sich der König nicht länger halten, sprang auf und umarmte sie; und wie er sie anrührte, ward sie wieder lebendig, frisch und rot. Die falsche Königin ward in den Wald geführt, wo die wilden Tiere sie fraßen; die böse Stiefmutter aber ward verbrannt. Da verwandelte sich das Rehkälbchen, und Brüderchen und Schwesterchen waren wieder beisammen und lebten glücklich ihr Lebelang.


Die andere Fassung ist im Anhange der ersten Ausgabe S. VII mitgeteilt und im Handexemplar hsl. vervollständigt:

Eine ähnliche Erzählung kennen wir nur fragmentarisch: Bruder und Schwester gingen eines Tags in den Wald, und weil die Sonne so heiß und der Weg so weit war, so fing den Bruder an zu dursten. Sie suchten Wasser und kamen zu einer Quelle, daran stand geschrieben: ‘Wer aus mir trinkt, ist es ein Mann, wird er ein Tiger, ist es ein Weib, wird es ein Lamm’. Da sprach das Mädchen: ‘Ach lieber Bruder, trink nicht aus der Quelle, sonst wirst du ein Tiger und zerreißest mich’. Da sagte der Bruder, er wolle noch warten, ob ihn gleich der Durst so quäle, bis zur nächsten Quelle. Wie sie aber an die nächste Quelle kamen, stand daran: ‘Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf’. Da sprach das Mädchen wieder: ‘Lieber, ach lieber Bruder, trink nicht, sonst frißt du mich’. Der Bruder sprach: ‘Noch einmal will ich meinen Durst bezähmen, aber länger kann ich nicht mehr’. Und sie kamen zu einer dritten Quelle, daran war geschrieben: ‘Wer aus mir trinkt und ist ein Mann, wird er ein goldener Hirsch, ist es ein Mädchen, wird es groß und schön.’ – Da legt sich der Bruder nieder und trinkt und steht als ein goldener Hirsch auf; das Mädchen trinkt auch und wird noch schöner und groß, als wär es erwachsen. † Dann legt es den Hirsch an ein Seil und führt ihn fort; der König sieht den wunderbaren Hirsch und läßt ihn einfangen. Das Mädchen bleibt bei ihm und wird einmal behorcht, als sie mit ihm spricht; da hört der König, daß es die Schwester von dem Goldhirsch ist, und vermählt sich mit ihr. Die Mutter des Königs aber ist neidisch und will sie verderben; sie gibt ihr eine häßliche Gestalt und macht, daß sie soll getötet, der Hirsch aber vom Metzger geschlachtet werden. – – Die Unschuld aber kommt an den Tag, die Schwiegermutter wird in eine mit scharfen Messern angefüllte Tonne getan und einen Berg herabgerollt.

Die letzten Zeilen vom † an sind im Handexemplar durchstrichen, und am Rande steht von Wilhelm Grimms zierlicher Hand: ‘S. am Ende die teilweise Ergänzung’. Diese lautet:

Da spricht das Mädchen: ‘Sei still, lieb Hirschchen!’ und tut sein goldenes Strumpfband ab und bindet es dem Goldhirsch um den Hals und führt ihn daran fort in den Wald, tief, tief hinein. Da kommen

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_082.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)