Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 384.jpg

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Komm und halt meinen Sohn über die heilige Taufe!’ Der Tod tat es und sagte zu dem Mann: ‘Wenn dein Sohn heranwächst, so mache ihn zum Arzt! Wenn er zu einem Kranken gerufen wird, so werde ich auch kommen; wenn ich am Kopf des Kranken stehe, so ist es ein Zeichen, daß er sterben muß; wenn ich am Fuß des Betts stehe, so ist es ein sicherer Beweis, daß der Kranke noch nicht sterben wird; danach soll sich dein Sohn richten.’ – So geschah es, der Junge machte sich zum Arzt, und wenn er seinen Paten am Kopfkissen stehen sah, so sagte er, es sei zu spät, der Kranke sei nicht mehr zu retten, und ging weg. Wenn der Pate am Fuße stand, so verschrieb er, was ihm einfiel, und der Kranke wurde geheilt. Er war weit und breit berühmt und erwarb Geld und Ehren, soviel er wollte. Eines Tags wurde er zu einem steinreichen Mann gerufen; er fand den Tod am Kopfkissen stehen und kündigte dem Mann seinen Tod an. Der Reiche drehte sich im Bette winselnd um und bat und weinte; er versprach dem Arzt sein ganzes Vermögen, sein Haus und seine Landgüter, wenn er ihn retten wollte, bis dieser versprach, einen Versuch zu machen. Es standen eine Menge Diener umher, die hieß er so schnell als möglich das Bett umdrehen, so daß der Tod nun an den Füßen stand. Der Tod hob den Zeigefinger der Hand auf und verschwand, und der reiche Mann gab dem Arzt, was er wollte an Geld und Gütern. – So ging es eine lange Zeit, da wurde einmal der Arzt zu einem alten Mann gerufen und sah gleich beim Eintritt den Tod am Kopfe des Kranken stehen, erklärte, daß es zu spät sei, und wollte zur Tür hinausgehen. Da warf sich die Tochter des alten Mannes vor der Tür nieder und hob die Hände gegen den Arzt auf und bat ihn so flehentlich. Der Arzt sah in ihre schönen blauen Augen, und sein Herz zitterte, aber er wollte nicht den Tod noch einmal beleidigen. Das schöne Kind bat immer rührender, der alte Mann versprach ihm seine Tochter, wenn er ihn rette, und der Arzt konnte es nicht anders, er mußte es noch einmal wagen, er ließ das Bett schnell umdrehen. Der Tod hob wieder seinen Zeigefinger und sagte: ‘Nimm dich in acht vor dem dritten Male!’ – Der Arzt heiratete die schöne Tochter und lebte glücklich und zufrieden und fest entschlossen, den Tod nicht mehr zu betrügen. Da ließ ihn der König rufen; er fand den Kranken schwach und den Tod am Kopfe stehend, ringsum die Diener weinend und wehklagend. Er erklärte, der König müsse sterben; man bat ihn umsonst, seine Kur zu versuchen, er war unerbittlich. Da richtete sich der sterbende König auf und befahl seinen Wachen, dem Arzt den Kopf abzuhauen, sobald er die Augen schließen werde. Man hielt ihn fest, und er sah einen geharnischten Mann mit einem blanken Schwert bereit ihn zu enthaupten. Er entsetzte sich und sah, daß sein Tod unvermeidlich sei, und entschloß sich, lieber seinen Paten noch einmal zu versuchen, ließ das Bett drehen. (Hier endigte die Erzählung; die Frau wußte das

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_384.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)