Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 529.jpg

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weil das Vögelchen gar nicht wegflog und auch nicht scheu tat, hob er den Flügel auf und fand ein goldenes Ei, das nahm er und stieg damit herab. Sie freuten sich über ihren Fund und gingen damit zum Goldschmied, der sagte, es sei feines Gold, und gab ihnen viel Geld dafür. Am andern Morgen gingen sie wieder in den Wald und fanden auch wieder ein Goldei, und das Vöglein ließ es sich geduldig nehmen wie das vorigemal. Das währte eine Zeitlang, alle Morgen holten sie das Goldei und waren bald reich; eines Morgens aber sagte der Vogel: ‘Nun werde ich keine Eier mehr legen; aber bringt mich zu dem Goldschmied! Das wird euer Glück sein.’ – Die Besenbindersjungen taten, wie es sprach, und brachten es dem Goldschmied getragen. Und als es allein mit diesem war, sang es:

‘Wer ißt mein Herzelein,
Wird bald König sein;
Wer ißt mein Leberlein,
Findet alle Morgen unterm Kissen ein Goldbeutlein.’

Wie der Goldschmied das hörte, rief er die beiden Jungen und sagte: ‘Laßt mir den Vogel, und ich will euer Schwesterlein heiraten.’ Die zwei sagten ja, und da ward nun Hochzeit gehalten. Der Goldschmied aber sprach: ‘Ich will zu meiner Hochzeit den Vogel essen. Ihr zwei bratet ihn am Spieße und habt acht, daß er nicht verdirbt, und bringt ihn herauf, wenn er gar ist!’ Er dachte aber, dann wolle er Herz und Leber herausnehmen und essen. Die beiden Brüder standen am Spieß und drehten ihn herum; wie sie ihn so herumdrehn und der Vogel bald gebraten ist, fällt ein Stückchen heraus. ‘Ei,’ sagt der eine, ‘das muß ich versuchen’ und aß das auf. Bald darnach fiel noch ein Stückchen heraus. ‘Das ist für mich,’ sagte der andere und läßt sich das schmecken. Das war aber das Herzlein und Leberlein, was sie gegessen hatten, und sie wußten nicht, was für Glück ihnen damit beschert war. – Darnach war der Vogel gebraten, und sie trugen ihn zu der Hochzeitstafel. Der Goldschmied schnitt ihn auf und wollte geschwind Herz und Leber essen, aber da war beides fort. Da ward er giftig bös und schrie: ‘Wer hat Herz und Leber von dem Vogel gegessen?’ – ‘Das werden wir getan haben,’ sagten sie, ‘es sind ein paar Stückchen herausgefallen beim Umwenden, die haben wir genommen.’ – ‘Habt ihr Herz und Leber gegessen, so mögt ihr auch eure Schwester behalten!’ und jagte sie in seinem Zorn alle fort.

Unser Märchen wird aber auch (vor 1822) mit einem andern merkwürdigen Eingang erzählt, der den Brüdern einen wunderbaren Ursprung (A²) zuschreibt. Ein König hatte eine Tochter,

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_529.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)