Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/102

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Auf der Eisenbahn

Januar 1917. Ich brauche ein Billett nach Petersburg. Was kann es nun Einfacheres geben, als ein Eisenbahnbillett zu kaufen. Ich will diesen Satz nicht bestreiten, wenn er in einem anderen Lande als in Rußland, und zu einer anderen Zeit, als während des Krieges, aufgestellt wird, glaubte ich doch selbst, daß es nichts Einfacheres geben könne, als den Kauf eines Eisenbahnbilletts. Doch ich mußte mich eines Schlechteren belehren lassen.

Auf dem Bahnhofe gibt es Queue, „Chwost“ nennt man das russisch, zu deutsch Schwanz. Es ist ein Schwanz von ungeheuerer Ausdehnung, wie etwa die Verlängerung eines der vorsintflutlichen Saurier, die nie daran gedacht zu haben scheinen, daß sie einst in räumlich beschränkten naturwissenschaftlichen Kabinetten untergebracht werden würden. Die Leute stehen dort schon seit vierundzwanzig Stunden, während früher die Reise nach Petersburg nur elf Stunden erfordert hatte. Doch das war früher so gewesen.

Während ich mir die Sache ansehe, bemerke ich, daß einige Menschen sich den Teufel um den Schwanz scheren, sondern frohgemut an den Schalter treten und ihr Billett in Empfang nehmen. Die scheinen das Goethesche Wort zu kennen, wonach nur Lumpe bescheiden sind. Ich werfe also alle Bescheidenheit über Bord und folge dem Beispiel dieser Auserwählten, doch schleudert mich alsbald ein wütender Zuruf in meines Nichts durchbohrendes Gefühl zurück: „Reihe halten! Nicht vordrängen!“ So schallt es

Empfohlene Zitierweise:
Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/102&oldid=- (Version vom 1.8.2018)