bei Frau Longard, die ihr einen Brief geschickt u. um ihren Besuch gebeten hatte. Die gute, alte Dame ist in großer Sorge um ihre Tochter. Diese Sorge offenbarte sie mir, indem sie Martha einen langen Brief, den sie an ihren Schwiegersohn Prof. Kemper, geschrieben hat, mitgab, damit ich ihn lesen solle. Prof. K. ist ein biederer, aber überaus schwerfälliger u. in sich verschlossener Westfale, der selten einmal ein Wort spricht u. bei dem es die überaus lebhafte Tochter der Frau L. gewiß nicht leicht hat. Frau K. ist sehr überanstrengt u. in ihrer Gesundheit schwer geschädigt, bzw. bedroht. Möge Gott dem Ehepaare helfen.
Heute morgen mußten wir zu unserem großen Bedauern feststellen, daß uns über Nacht von unseren drei Kaninchen zwei Stück gestohlen worden sind, wobei wir noch von Glück sagen können, daß wenigstens dieses eine übrig geblieben ist. Es ist wirklich nichts mehr sicher.
Es wird ganz langsam draußen wieder kälter.
Abends fiel mir der Kopf meiner Tabakspfeife auseinander, nachdem ich ihn schon oft mit Leukoplast verklebt hatte. Ich habe nochmals versucht, ihn zu kleben, obgleich es hoffnungslos aussieht. Es ist die letzte Tabakspfeife, neue Pfeifen gibt es nicht.
Heute Vormittag habe ich das Bild „Vernichtung“ fertig gemalt. Vielleicht nenne ich es besser „Untergang“. Ich glaube, daß es ein sehr gutes Bild geworden ist, das erste des Jahres 1947. – Nachmittags habe ich die Skizze der zwei Herren, die sich Zoten erzählen, auf eine Holzplatte übertragen. Zu dieser Skizze wurde ich durch das Buch „Der Untertan“ von Heinrich Mann angeregt.
Es ist leider wieder recht kalt geworden, wenn auch noch nicht so scharfer Frost wie letzthin. Tack hat bis heute an unserer Heizung gearbeitet, der Heizkörper im Seezimmer ist am stärksten mitgenommen, fast alle Röhren sind geplatzt. Auch jetzt ist dieser Heizkörper noch nicht dicht, aber es scheint nicht so schlimm zu sein, jedenfalls haben wir gegen Abend den Ofen angeheizt.
Abends in der Dunkelheit kamen Küntzels. Grete erzählte von ihren Erlebnissen ihres jüngsten Aufenthaltes in Berlin, wohin sie gefahren war, um ihre Tochter Inge zu pflegen, die an Rheumatismus schwer erkrankt war u. wobei sie zuerst durch die Einschränkung des Personenverkehrs vor Weihnachten u. nachher durch den Frost viel länger aufgehalten worden war, als sie beabsichtigt hatte. Sie war Ende November nach Berlin gefahren u. ist erst in diesen Tagen wieder zurückgekehrt. – Auf der Hinfahrt wurde ihr Zug auf freier Strecke aufgehalten durch russische Soldaten, die damals nach Rußland zurück transportiert wurden u. aus diesem Anlaß überall plünderten. Auch diesen Zug wollten sie ausplündern, doch wurden sie durch andere russische Soldatenabteilungen daran gehindert. Im Zuge waren Leute, die diese Vorkomnisse schon kannten u. darüber erzählten, aber auch in Berlin waren diese Dinge allgemein bekannt, besonders wußte man dort über skandalöse Zustände in Stralsund zu berichten. Stralsund scheint überall in besonders schlechtem Ruf zu stehen. – Grete wohnte bei ihrer Tochter Inge in der englischen Zone Berlins, der Unterschied ist wie Tag u. Nacht.
Hans Brass: TBHB 1947-01-18. , 1947, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1947-01-19_001.jpg&oldid=- (Version vom 2.1.2025)