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Idealisten.
Von Rudolf Lavant.

Ein Novemberspätabend, wie er im Buche steht. Der Sturm fährt heulend und pfeifend durch die engen und winkligen Gassen und Gäßchen einer mitteldeutschen Handels- und Universitätsstadt, die sich bereits zur werdenden Großstadt ausgewachsen hat und zeitweilig ein Mittelpunkt deutschen Geisteslebens war. Wo diesem wilden Herbststurm auf seiner Siegesbahn ein lockrer Ziegel oder ein angebrochener Dachschiefer aufstößt, da hebt er ihn aus und führt ihn spielend davon, und die Essenköpfe prüft er eingehend auf ihre Widerstandsfähigkeit. Dazu schneit und regnet es wirr durcheinander, und wer sich im Freien befindet, hat seine liebe Noth, die Augen offen zu behalten.

Desto behaglicher ist es hoch oben im letzten Stock eines sehr hohen und sehr schmalen, mit plumpen Erkern wenig vortheilhaft herausgeputzten alten Hauses, das seine Front den Promenadenanlagen, seine Rückseite einem, in launischen Schlangenwindungen angelegten, düstern und herzlich unfreundlichen Gäßchen zuwendet. Da das Haus in der Front seinen Fuß in die Mitte einer sanft nach der Promenade abfallenden Böschung setzt, welche zur andern Hälfte von einem kleinen Garten eingenommen wird, so erscheint das Parterre, welches seinen Eingang von dem Gäßchen aus hat und dort ebenerdig ist, zu welchem aber vom Garten aus eine Treppe emporführt, von der Promenade aus als ein erstes Stockwerk, und die bösen Zungen, welche behaupten, die „Bude“ des Rechtskandidaten Franz Wendt befinde sich im fünften Stock eines thurmhohen Gebäudes von nur drei Fenstern Front, können sich für diese fast lieblose Verleumdung wenigstens auf den oberflächlichen Anschein berufen.

Doch wie dem auch sei, es war recht behaglich da oben. Ein grüner Schirm dämpfte das Licht der Lampe, auf dem weißgedeckten Tisch vor dem alterthümlichen und darum bequemen Sopha stand eine frischangebrochene Kiste Cigarren und der eiserne Ofen strahlte eine so ausgiebige Wärme aus, daß die Energie, mit welcher ein zweifellos sauberes und beinahe schmuckes Dienstmädchen Schaufel um Schaufel voll Kohlen nachschob, ziemlich unmotivirt erschien.

Eine andere Auffassung der Sachlage schien der voll- und rothwangige junge Mann zu haben, der es sich in einem augenscheinlich für die bizarren Körperverhältnisse eines arg Verwachsenen gebauten, für jeden Normalkörper unbrauchbaren Lehnstuhl bequem zu machen suchte, ohne damit zurechtkommen zu können. Die Cigarette aus dem Munde nehmend, sagte er nämlich mit vielem Wohlwollen und in fast verbindlich-chevalereskem Tone:

„So ist’s recht, Fräulein, kacheln Sie nur tüchtig ein, denn einer von den Herren, die ich heute das erstemal hier bewirthe, friert auch im wärmsten Zimmer wie ein Windspiel und würde selbst in der Sahara höchstens eine Maikühle konstatiren. Bier haben Sie also besorgt und um elf bringen Sie den Thee, – er muß aber stark sein, sonst fallen sie alle über mich her.“

„Es ist alles in Ordnung, – aber sollten die Herren nicht um acht kommen? Es ist jetzt gerade einviertel neun.“

„Das nennt man das ‚akademische Viertel‘, aber es ist allerdings in der letzten Zeit eine bedenkliche Bummelei eingerissen. Doch halt, – hören Sie nicht jemanden die Treppe heraufkommen?“

Die Gefragte konnte sich die Antwort sparen, denn in der That ließ sich ein schwerer, stapfender, etwas unsicherer Schritt vernehmen und gleich darauf trat ein junger Mann ins Zimmer, schüttelte die nassen Flocken von seinem Hute, warf den Ueberzieher ohne Umstände auf einen Stuhl und trat, nachdem er seinem Wirth die Hand gedrückt, an den Ofen, um sich die erstarrten Hände zu wärmen.

„Ist das ein Hundewetter!“ meinte er dann, mit einer Verbeugung gegen das hinausgehende Mädchen, welches er jetzt erst zu bemerken schien. „Aber an unserm Abend kommt aufs Wetter nichts an, und ich bin sogar wieder der Erste, wie ich sehe.“

„Sie sind exemplarisch pünktlich, lieber Born, aber von Ihnen freut mich das garnicht. Es wäre mir viel lieber, Sie gewöhnten sich eine geniale Unpünktlichkeit an und brächten es fertig, Sich um eine Stunde zu versehen.“

„Da hört aber doch alles auf; den anderen werfen Sie bei jeder Gelegenheit die Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit vor, und ich soll nicht einmal pünktlich sein dürfen; wann werde ich es denn endlich einmal recht machen?“

„Lieber Born, Sie verkennen ganz, daß Sie ein Dichter sind, was von den anderen nicht gesagt werden kann; Sie vergessen ganz, daß Sie nicht blos das übliche Trauerspiel verbrochen haben, sondern das Lamm gewesen sind, welches der Welt Sünde trägt, daß Sie unsere Verbindlichkeiten der tragischen Muse gegenüber mit übernommen und statt des Pflicht-Trauerspiels deren fünf von Stapel gelassen haben, auf diese Weise unsere sträfliche Pflichtvergessenheit sühnend. Sie haben die Schatten Barbarossas, Heinrichs des Löwen, Heinrichs des Vierten, Karls des Fünften und Rudolfs von Habsburg nochmals heraufbeschworen, und die Welt erwartet von Ihnen, daß Sie auch die übrigen deutschen Kaiser dramatisiren und Raupach überraupachen werden.“

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. In: Die Neue Welt, Leipzig 1880, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_33_01.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)