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Lektüre zuwendeten. Es ist ja allerlei neues da und wir müssen wählen.“ Damit nahm er den Büchervorrath zur Hand und las vor: Spitzers „Verliebte Wagnerianer“, „Hypnotische Versuche“, „Uebersetzersünden“, Zolas „Nana“, Turgenjew „Erzählungen eines Jägers“, in Summa fünf Broschüren für und sechs gegen die Juden, und hier hat Arvenberg richtig den kompletten Grillparzer zur Verfügung gestellt. Da ist die Wahl allerdings recht schwierig“.

Auf das Resultat derselben übte Arvenberg einen entscheidenden Einfluß, indem er lachend erzählte, daß einer seiner Mitkritiker, ein großer Aesthetiker vor dem Herrn und selber Poet, nach einer Aufführung von „Des Meeres und der Liebe Wellen“ Grillparzer als ein sekundäres Talent bezeichnet habe, das man getrost der cis- und transleithanischen Begeisterung überlassen könne. Man wurde neugierig und Born und Wendt plaidirten so eifrig dafür, daß gerade dieses Stück gelesen werde, daß die übrigen schweigend zustimmten und Arvenberg, der für alles Schöngeistige ein für allemal zum Vorleser Ernannte, das Buch zur Hand nahm. Sofort trat tiefe Stille ein, die guten und schlechten Witze und die harmlosen persönlichen Häkeleien waren mit einem Schlage verstummt und alle gaben sich mit dem ganzen Enthusiasmus der idealistisch gestimmten Jugend dem Genuß der schönen Dichtung hin; selbst Reinisch, der in den Vierzigern nicht allzu viel mehr zu suchen hatte und dessen ausgemeißeltes, durchfurchtes Gesicht mit den feinen, ewig vibrirenden Fältchen unter den grauen Falkenaugen von einer unruhigen und wohl auch leidenschaftlich bewegten Vergangenheit erzählte, hörte in tiefem Sinnen zu und ließ sogar – ein seltener Fall bei dem leidenschaftlichen Raucher – die Zigarre ausgehen. Eine durch das gespannte Achten auf die Technik des Stücks noch verschärfte Aufmerksamkeit zeigte Born; ganz ins Zuhören versunken, betupfte der über Maßen Kurzsichtige das schöne weiße Tafeltuch so lange mit der glimmenden Zigarre, bis ein häßlicher Brandfleck entstanden war. Am meisten entzückt war jedoch Wendt. Sonst ein eingefleischter Materialist, dem die Behaglichkeit des Lebens und die Freuden der Tafel sehr hoch standen, hatte er Empfänglichkeit für dichterische Schönheiten, besonders aber den Ehrgeiz, ästhetisch geschult zu sein; lyrischen Zartheiten gegenüber gerieth er in eine Verzückung, die mit einem komischen Reiz ausgestattet war, denn zu der derben vierschrötigen Gestalt, den rothen Wangen und den Pausbacken des großen Essers wollte die Schwärmerei für das Elegische und Melancholische und für die subtilsten Feinheiten des Empfindens schlecht passen. Es war denn auch sein sehnlichster Wunsch, an Leibesfülle zu verlieren und viel hätte er darum gegeben, seinem Gesicht, das einem Fleischhauer seine Unehre gemacht haben würde, eine interessante Blässe ankränkeln zu können.

Die kleine Vereinigung von Gleichgesinnten oder vielleicht besser Gleichgestimmten nahm es überhaupt ernst mit ihren wöchentlichen Zusammenkünften; die an die Lektüre neuer Erscheinungen auf dem Büchermarkt sich knüpfenden lebhaften Diskussionen fanden häufig genug einen Niederschlag in einer Kritik, die Arvenberg verfaßte und die Hörner und Zähne zu haben pflegte, wenn es sich um prätentiös auftretende oder von einer Clique gelobhudelte werthlose Machwerke handelte. So ernst wurde die Sache genommen, daß das schmucke Stubenmädchen, welches den jungen Leuten einst in Arvenbergs Wohnung Thee und kalten Aufschnitt präsentirte, seiner Herrin ganz verblüfft erzählte: „Ich bin schon in vielen feinen Häusern gewesen, in denen Abends Herren zusammenkamen, aber dann wurde Bier und Wein getrunken und gespielt; die Herren drüben aber sitzen im Kreise um den Tisch und einer liest vor und dann sind sie eine Weile still und rauchen furchtbar und überlegen, was sie damit machen sollen – ich glaube aber, das ist noch feiner.“

Das Stück wurde zu Ende gelesen und es währte ein paar Augenblicke, bis Lindner das Schweigen brach und in aufrichtigem Stolze sagte:

„Arvenberg, Sie haben meisterlich gelesen und in welchem Verein bekommt man dergleichen so zu hören? Und wir sind ja nicht einmal ein richtiger Verein, wir haben auf Namen und Statuten verzichtet –“

„Ohne uns darum weniger wohl zu befinden,“ meinte Born, „als Vereine, die nach guter deutscher Sitte monatelang die schönen Abende mit unerquicklichen Statutenberathungen vergeudet, Kommissionen niedergesetzt und die scharfsinnigsten Debatten über Zweck und Aufgabe des Vereins gepflogen haben.“

„Nun, wenn wir fünf einen Vorsitzenden, einen Kassirer, einen Schriftführer und einen Bibliothekar wählen wollten, bliebe auch nur ein einziges Mitglied übrig und das wäre doch gar zu lächerlich,“ wendete Arvenberg ein.

„Als wenn Sie nicht wüßten,“ erwiderte Wendt eifrig, „daß wir nur zu wollen brauchten, um zahlreichen Zuwachs zu erhalten. Jeder von uns hat doch einige Bekannte, für die unsere langwierigen Sitzungen den Reiz des Geheimnißvollen haben und die ein ernstliches Angliederungsbedürfniß empfinden.“

„Nichts da,“ rief Lindner dazwischen; „schon der sechste Mann, wenn er nicht ganz und gar zu uns paßte, würde störend wirken, und Sie wissen am besten, welche Mühe Sie gehabt haben, aufgenommen zu werden. Das Zünglein der Wage schwankte lange hin und her und Born hatte einen Scheffelsack voll Bedenken, bis endlich Reinisch trocken sagte:

„Na, da laßt das schnurrige Huhn nur hereinfliegen; wenn es sich nicht eingewöhnen kann, wird es schon ganz von selber wieder davonschwirren.“

Die Miene des Malers hatte während dieses Geplauders eine ziemliche Dosis Mißbilligung und Ungeduld zum Ausdruck gebracht; endlich klopfte er mit dem Rücken eines Buches auf die Tischplatte und fragte mit einer gewissen Schärfe:

„Darf man nun auch fragen, wie ihr über das Stück denkt und ob es den Eindruck der Lebenswahrheit auf euch macht?“

Wendt war rasch mit der Antwort bei der Hand.

„Großartig ist es – reizend schön! Es ist mir dabei wieder so zu Muthe gewesen, wie in meinen grünen Jahren, als ich schwärmerisch in zwei Schwestern, noch dazu Superintendententöchter, verliebt war; es war eine große Eselei und lange nicht so tragisch, wie die Bürger’sche Doppelliebe, aber es war himmlisch, und heutzutage habe ich nur im Traume solche Empfindungen, wie z. B. neulich, wo ich von einem mit dem kleinen reizenden Fräulein Walther – Born kennt das wunderliebe Geschöpfchen – verstohlen getauschten Händedruck träumte. Ach, es ist doch zu traurig, wenn man so über die Ohren in der Juristerei steckt; sie tötet die Phantasie allmählich ab, und zuletzt glaubt man nicht mehr recht an die Liebe, von der die Dichter solche Wunderdinge zu erzählen wissen.“

Born meinte trocken:

„Nun ja, Sie lieben anders, das weiß man schon, ich muß aber auch bekennen, daß ich zwar jede Schönheit des Stücks empfinde und mir nichts besseres wünsche, als eine solche Hero zu finden, daß ich indessen fürchte, dergleichen kommt nicht mehr vor. Wir reflektiren zu viel über uns selber und gelangen schließlich dazu, als eine romantische Velleität anzusehen, was recht gut noch Wirklichkeit sein könnte. Früher vielleicht, als ich die „Parerga und Paralipomena“ und „die Welt als Wille und Vorstellung“ noch nicht kannte – Arvenberg, Arvenberg, Sie haben mir keinen Gefallen gethan, als Sie mich mit Schopenhauer bekannt machten!“

„Hat Ihnen durchaus nichts geschadet,“ erwiderte der so hart Angegriffene. „Nach meiner Ansicht sind Leander und Hero keine Griechen, sondern Deutsche, und für die deutsche Liebesschwärmerei geht uns Juden allerdings das volle Verständniß ab, weshalb ich auch keineswegs glaube, daß ich sehr gut gelesen habe. Ihr wißt ja, wie es bei uns zugeht – wir werden verheiratet, wobei man die Mädchen kaum fragt, und meinen Eltern laufen die „Schadchen“, unsere gewerbsmäßigen Heirathsvermittler, fast das Haus ein und schlagen ihnen geeignete Partien für mich vor. Merkwürdig, daß diese völlig illusionslos geschlossenen Ehen sich selten als unglückliche erweisen; liegt es daran, daß, wo keine Illusion vorhanden war, auch keine Enttäuschungen eintreten können, keine Ernüchterungen?“

Lindner hatte sich bisher zurückgehalten, nun meinte er:

„Vor fünf Jahren dachte ich noch, es müßte eine Hero oder eine Julia sein, jetzt weiß ich nicht mehr so recht, ob man auf eine solche Traumgestalt warten soll. Jemehr Frauen man kennen lernt und je objektiver man sich die jungen Mädchen ansieht, desto kühler weht einen der Hauch der Skepsis an, desto bedenklicher wird man in Bezug auf die „großen Leidenschaften“, desto weniger ist man geneigt, an die Aufopferungsfähigkeit zu glauben, die sie in weichen und doch starken Gemüthern erzeugen sollen. Ein gutes Mädchen, das ja noch lange nicht dumm zu sein braucht und das man ehrlich lieb hat, thut es ja wohl auch –“

„Aha, der Wirthin Töchterlein; eine oratio pro domo“, spottete Arvenberg, der Maler aber, der schweigend zugehört und sich in undurchdringliche Rauchwolken gehüllt hatte, legte die Zigarre weg und brach mit allen Zeichen der Ungeduld los:

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. In: Die Neue Welt, Leipzig 1880, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_34_05.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)