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jähes Unglück träfe. „Entsetzlich!“ rief er, „und dennoch unterrichten Sie?“ „Jawohl“, stieß Fräulein Karoline mit schwer verhaltenem Weinen hervor, während sie in ihrem Täschchen nach einem Briefe suchte, „es fehlen doch schon genug Lehrkräfte, und wo sollte ich bleiben heute morgen? Meine Mutter weiß noch nichts, ich muß es ihr langsam beibringen. Und dann meine ich, Arbeit ist das beste Heilmittel gegen Schmerz, auch hoffte ich, wenigstens im deutschen Unterricht noch etwas im Geiste meines Bruders zu wirken; es ist eine Art Totenamt, wenn ich, soweit meine schwachen Kräfte ...“ Sie konnte den Satz nicht vollenden, denn ein heftiger Weinkrampf schüttelte sie. Kraftlos sank sie auf ihren Stuhl, legte das Haupt auf die Pultplatte und ließ den erlösenden Tränen freien Lauf. Die Mädchen waren entsetzt, die ganze Klasse weinte mit. Der Direktor nahm den ihm von Karoline überreichten Feldpostbrief, und wie glühende Tränen tropften in die aufhorchende Klasse auch die abgerissenen Sätze, die er aus dem Brief in seiner Erregung mit dumpfer, aber vernehmbarer Stimme vor sich hinlas: „In Erfüllung eines meinem lieben Kameraden gegebenen Versprechens ... indische Gurkhas uns überrumpelten ... Ihr Bruder rächte sofort unsern Leutnant ... rang den Mörder nieder ... für uns vorbildlich ... die Gurkhas flohen ... Leider ist Ihr Bruder in dem Handgemenge gefallen ... ich fand ihn gleich darauf regungslos tot ... er hat nicht gelitten ... mit zwei anderen Toten ehrenvoll begraben ... Niemand aufrichtiger betrauert, als Ihr Bruder.“

Die Schulglocke kündete das Ende der Stunde. Fräulein Karoline hatte ihre Fassung wiedergewonnen und ging hinaus, begleitet von den Mahnungen des Direktors: „Machen Sie Spaziergänge!“ „Sammeln Sie sich!“ „Ich werde für Vertretung sorgen.“ — Dann wandte sich der Direktor an die Mädchen: „Wer hat mir den Brief wegen der Jungfrau geschrieben?“ Eine Schülerin meldete sich. „Was wollt ihr denn jetzt?“ „Wir wollen kniefällig abbitten“, war die schluchzende Antwort. „Bei mir und

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/96&oldid=- (Version vom 1.8.2018)