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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

gethan haben. Er stellt die Ereignisse, welche diese Völkerschaften betroffen, nicht dar, wie sie von den Slawen selbst, aus ihrem freien Entschlusse, aus ihren inneren Verhältnissen, aus der Macht der Umstände ausgeflossen sind, sondern er schildert nur, was die Nachbarn an ihnen gethan, wie sie mit ihnen glücklich und unglücklich gekämpft haben, ohne weiter darauf einzugehen, was die „Wenden“ dann gethan, welchen Einfluss diese Ereignisse auf sie gehabt und wie hieraus die folgenden Begebenheiten sich entwickelt haben; mit einem Worte: er schreibt keine innere Geschichte der Elbeslawen, sondern eine äussere. Und das dünkt uns ein sehr wesentliches Merkmal dieses Buches zu sein, dass wir es besonders hervorheben zu müssen glaubten. Der I. Band zerfällt in eine Art von Einleitung unter dem Titel: „Die Wenden“ (S. 1—94), vielleicht der schwächste Theil des ganzen Werkes. Unter dem Abschnitt „das Wendenland und die Wendenvölker“ gibt er eine Art historischer Geographie, wie sie in den germanisch-lateinischen Urkunden allmählig und in einzelnen Zügen zum Vorschein tritt. Die Länder und Völkernamen werden dabei ganz in der Gestalt beibehalten, wie sie in jenen Urkunden stehen; z. B. Luitizen, Weletaben, Wiltzen, die alle drei streng von einander unterschieden werden, Circipani, Zirzepani, Ciryszpani, Abodriten und dergl. Ein zweiter Abschnitt: „Arbeit der Wenden“ bespricht ihre Gewerbthätigkeit, Ackerbau, Vieh- und Bienenzucht, Handel, Kunst. In dem Abschnitte „Recht und Sitte der Wenden“ werden Unfreie und Freie und unter diesen wieder mindere Freie und die Edelen unterschieden, wohl nicht ganz mit historischer Begründung. Ueber „Religion und Cultus der Wenden“ wird sehr lange und sehr viel gesprochen, ein System in den Cultus natürlich nicht gebracht, der Naturcultus aber doch als vorherrschend bezeichnet. Dabei aber der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele dem Volke gänzlich abgesprochen. Dieses ist unbedingt falsch; denn die Stelle aus der Königinhofer Handschrift ist ganz falsch erklärt. — Dieses Capitel führt uns denn wieder ein Mal recht klar vor die Augen, wie selbst so fleissige Männer, wie Herr Giesebrecht, so gar wenig gründliche Kenntniss über unser slawisches Alterthum haben; wie sie bis zur Stunde sich immer noch abmühen, die einzelnen, freilich oft sehr ergiebigen, aber doch immer auf einseitiger Auffassung und schiefer Beurtheilung beruhenden Berichte der alten Chronisten in ein Ganzes zu bringen, und da ihnen dieses nicht gelingt, lieber ein zerrissenes Flickwerk hinstellen oder längst besprochene und vielfach beschriebene Dinge von Neuem auftischen, ohne sich zu kümmern, was die slawische Literatur der übrigen Stämme Vortreffliches und Gutes über diesen Gegenstand bereits geleistet hat. Deutschlands Gelehrte sollten sich denn doch ein Mal überzeugen, dass wenn sie über die alte Geschichte gewisser jetzt mit deutschen Einwohnern besetzter Landstriche schreiben wollen, es ein unumgängliches Bedürfniss sei, erst wenigstens einigermassen die Sprache des Volkes sich eigen zu machen, das einst diese Gegenden bevölkerte. Wie viele so augenfällige Mängel hätte der Verf. vermieden, wie viele so störende Schwachheiten beseitigt, wenn er nur ein wenig Bekanntschaft mit den slawischen Sprachen nachgesucht hätte.

 Nach dieser Art von Einleitung kommt nun der Verf. zu der eigentlichen Geschichte. Er fängt sie mit der Unterwerfung der West- und Ostfalen durch Karl den Grossen an und erzählt, wie der Kaiser nach dieser „zuerst mit den Wenden jenseits der Elbe unterhandelte.“ Ueber den ganzen vorangegangenen Zeitraum, über die Einwanderung und die Ausbreitung der Wenden und die alte Zertheilung des Landes unter dieselben, verliert er nirgends ein Wort, obgleich denn doch auch die alten Quellen manchen gewichtigen Fingerzeig darüber geben und die Sache an sich gewiss der Feder auch eines so tüchtigen Historikers, wie Prof. Giesebrecht ist, würdig gewesen wäre. Allein der Verfasser kümmert sich von seinen deutschen Standpunkte herab, wie wir bereits oben zeigten, nun ein Mal nicht im Geringsten um das, was die „Wenden“ an sich betrifft, sondern nur insofern der deutsche Einfluss sich auf sie wirksam oder erfolglos gezeigt hat. Indess auf diesem Standpunkte hat er die alten deutschen und nordischen Quellen in einer Vollständigkeit und Umsicht benutzt, wie gewiss selten ein Anderer, und

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/144&oldid=- (Version vom 16.10.2019)