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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Tasten der Leier und entlockt ihr harmonische Laute zur Begleitung bald eines andächtigen Liedes, bald einer trauervollen Dume (Volkslied). Allein der ächte Sänger beginnt weder eine alte Dume noch eine lustige Kolomejka, bevor er nicht das Lied vom heiligen Nikolaus gesungen:

 „Keinen grössern Beschützer gibt es auf Erden, (so singt der Leierspieler), als den heiligen Nikolaus; auf ihm ruht all unsre Hülfe, all unser Verstand; er errettet den Gefangenen, die Waise, die Wittwe. Hast du gesündigt und betest zu ihm, so führt er dich auf den Weg der Wahrheit, verjagt von dir die reissenden Wölfe und verscheucht des Teufels Hinterlist. — Hort der Waisen, Pfleger der Armen! — Um was du ihn auch bittest, in Allem hilft er dir; und wenn der Tag des schrecklichen Gerichts naht, so ist er der Schutz und Schirm der Sünder.“

 Wenn der Leiermann diesen andächtigen Gesang geendet, erinnert ihn der Greis an irgend eine Dume, und nun spielt und singt der junge Spielmann desto lustiger die weltlichen Lieder, vergisst aber nicht, sie mit einer lustigen Kolomejka zu schliessen.

 So ziehen sie von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof; der Blinde füllt seinen Quersack mit Lebensmitteln, sammelt Geld in seinen Säckel und kehrt dann fröhlich in seine Hütte zurück, um in sorgloser Genügsamkeit das Erworbene zu verzehren. Gewöhnlich gehört dieser Panjenko (Herrchen), wie man ihn im Russinenlande nennt, zu den reichsten Leuten der Umgegend; gewiss gibt es im ganzen Dorfe keine reichere Stube, als die seinige, kein Mädchen kleidet sich so gut, wie die Tochter des Panjenko, und gross ist das Ansehen und die Hochachtung, welche er von den Seinigen geniesst. Was Wunder, dass der in solcher Sorglosigkeit lebende Vater seine eigenen Enkel blendet, damit sich in seinem Stamme das ehrwürdige Geschlecht des Did (des alten Grossvaters) erhalte; denn der Panjenko ist stolz darauf, von sich sagen zu können: Mein Grossvater hat’s von seinem Grossvater, meines Grossvaters Vater vom Urgrossvater. — Im Dorfe Matyjewka, am Prut, nicht weit von der Stadt Kolomia (im östreichischen Gallizien), traf ich ein ächtes Muster dieser Panjenko’s. Auch weiss ich ganz bestimmt, dass es in der Gegend von Grubeschow, in den russischen Niederlassungen, vor einigen zehn Jahren ähnliche Blinde gab. Ohne Zweifel existiren sie auch jetzt noch daselbst. — Auch in Polen gab es vor einigen Jahrhunderten blinde Bettler, was ein alter Dialog bestätigt, der 1553 in Krakau bei der Wittwe Florianowa in klein Oktav gedruckt wurde, worin eine Hexe, ihre Vergehen eingestehend, unter andern sagt:

Was anderes führte ich einstmals noch aus:
Einem Vetter, gar alt, stach die Augen ich aus;
Doch ein Unglück für ihn war das nimmermehr;
Jedweder gab, wenn er so zog einher,
In seiner Blindheit und Dürftigkeit
Ein Hellerlein gern ihm und schnell bereit.

 Die Panjenko’s spielen auch selbst auf der Leier. Im Jahre 1832 traf ich auf den Bergen, nicht weit von dem berühmten Wasserfall des Prut, einen jungen blinden Menschen. Zufällig kam zu selber Zeit ein sehender Leierspieler herzu und fing an zu spielen. Bei den ersten Klängen erbebte der Blinde und bat inständigst, man möchte ihm die Leier geben; seine Finger zitterten und mit voller Gier streckte er die Hände aus wie nach einem Schatze. Aber der eigensinnige Leierspieler wollte ihm seine Leier nicht geben und kaum vermochte ihn ein Geschenk, den heissen Wunsch des Blinden zu erfüllen. Da ergriff der Blinde die Leier, freier athmete seine Brust, er neigte den Kopf, legte das Ohr an das Instrument und begann den Wirbel zu drehen, um zu stimmen, während

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/319&oldid=- (Version vom 15.9.2022)