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     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Redet selber diese Worte:
„Albern ist des Vogels Singen,
Dummes Zeug der Drossel Zwitschern;
Kind stets bleibt zu Haus’ das Mädchen,
Wird als Frau erst recht geehret;
Komm, o Jungfrau, in den Schlitten,
Setze dich an meine Seite;
Bin als Mann nicht zu verachten,

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Schlimmer nicht als andre Helden.“

     Klüglich antwortet das Mädchen,
Redet Worte solcher Weise:
„Möchte dann für einen Helden,
Dann für einen Mann dich halten,
Wenn du mir ein Haar gespalten
Mit dem Messer ohne Schneide,
Wenn ein Ei du eingeschlungen,
Ohne daß die Schling’ zu merken.“
     Wäinämöinen alt und wahrhaft

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Spaltete das Haar behende

Mit dem Messer ohne Spitze,
Das der Schärfe sehr entbehrte,
Bracht’ das Ei dann in die Schlinge,
Ohne daß die Schling’ zu sehen;
Bat das Mädchen in den Schlitten,
Bat sie auf den Sitz zu kommen.
     Klüglich antwortet das Mädchen:
„Nimmer komm’ ich in den Schlitten,
Wenn den Stein du mir nicht schälest,

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Eine Gert’ aus Eis mir hauest,

Ohne daß die Splitter springen,
Daß ein Stäubchen weiter flieget.“
     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Ist dabei nicht sehr verlegen,
Schälet rasch des Steines Rinde,
Haut aus Eis ihr eine Gerte,
Ohne daß die Splitter sprangen,
Daß ein Stäubchen sich verirrte;
Rief die Jungfrau in den Schlitten,

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Rief auf seinen Sitz das Mädchen.

     Klüglich antwortet das Mädchen,
Redet Worte solcher Weise:
„Möcht’ zu dem mich nur begeben,
Der ein Boot mir zimmern könnte
Aus den Splittern meiner Spindel,
Aus den Trümmern meiner Spuhle,
In das Wasser dann es führte,
In die Fluth das neue Schifflein,
Ohne mit dem Knie zu stoßen,

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Ohn’ es mit der Hand zu fassen,

Mit dem Arme es zu wenden,
Mit der Schulter es zu ziehen.“
     Sprach der alte Wäinämöinen
Selber Worte dieser Weise:
„Niemand ist wohl auf der Erde,
Niemand unter’m Himmelsdache,
Der gleich mir ein Fahrzeug bauet,
Niemand der gleich mir es zimmert.“
     Nahm darauf der Spindel Splitter,

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Nahm der Spuhle krummes Ende,

Eilet fort das Boot zu zimmern,
Hundert Bretter zu verbinden
Zu dem stahlgefüllten Berge,
Zu dem eisenreichen Felsen.
     Zimmert eifrig an dem Boote,
Baut das Fahrzeug unverdrossen,
Zimmert einen Tag, den zweiten,
Zimmerte am dritten Tage;
Nicht gerieth die Axt an Steine,

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Nicht die Schneide an den Felsen.

     Endlich an dem dritten Tage
Lenkte Hiisi rasch den Beilschaft,
Lempo faßte an der Schneide,
Gab dem Schafte kräft’ge Stöße,
Daß die Axt zum Steine schnellte
Und die Schneide hin zum Felsen,
Ab vom Steine prallt’ das Eisen,
In das Fleisch fuhr da die Schneide,
In das Knie des armen Mannes,

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In die Zehe Wäinämöinen’s,

Lempo trieb in’s Fleisch das Eisen,
Hiisi fügt’ es in die Adern,
Heftig fluthete der Blutstrom,
Quillt hervor mit allen Kräften.

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_037.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)