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Solltest du auch nimmer singen,

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Selbst dein Lebenlang nicht lärmen.

     Fährt der alte Wäinämöinen
Auf des Meeres blauem Rücken,
Steuert einen Tag, den zweiten,
Endlich an dem dritten Tage
Fing der muntre Lemminkäinen
Nochmals an mit diesen Worten:
„Warum willst du, Wäinämöinen,
Willst, o Bester, du nicht singen,
Da den Sampo du gewonnen,

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Du den rechten Weg gefunden?“

     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Giebt ihm Antwort voller Klugheit:
„Ist zu früh noch um zu singen,
Noch zu zeitig um zu jubeln;
Dann erst ziemet es zu singen,
Dann erst ist es Zeit zu jubeln,
Wenn die eigne Thür man siehet,
Wenn die eignen Thüren knarren.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen:

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„Würde ich am Steuer sitzen,

Würde ich nach Kräften singen,
Dort aus vollem Halse lärmen,
Wenn ich’s sonst auch nicht vermöchte,
Nicht genügend thuen könnte:
Willst du nicht den Sang beginnen,
Mache ich mich selbst an’s Singen.“
     Setzt der muntre Lemminkäinen
Er, der schöne Kaukomieli,
Seinen Mund darauf in Ordnung,

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Fängt die Töne an zu ordnen;

Machet selber sich an’s Singen,
Fängt nun selber an zu lärmen
Mit der Stimme, die gar heiser,
Mit der Kehle voller Rauhheit.
     Sang der muntre Lemminkäinen,
Lärmt’ der schöne Kaukomieli,
Daß der Mund und Bart ihm bebte,
Daß des Kinnes Pfeiler schwankten;
Weithin hörte man das Singen,

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Hört’ den Sang entlang dem Wasser,

Hört’ ihn in dem sechsten Dorfe,
Weiter noch als sieben Meere.
     Saß auf einem Stamm ein Kranich,
Auf dem nassen Wiesenhügel,
Zählt die Knochen seiner Zehen,
Hebt nach oben seine Füße;
Ward gar fürchterlich erschrecket
Durch das Singen Lemminkäinen’s.
     Hob der Kranich an zu schreien,

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Schrie erschreckt mit grauser Stimme,

Fing gleich an davon zu fliegen,
Flieget eilends durch Pohjola;
Als er dorthin angekommen,
Nach des Nordens Sumpf gekommen,
Lärmt’ er noch mit schlechter Stimme,
Schrie er fort mit allen Kräften,
Weckte so das Volk Pohjola’s,
Machte wach die schlechten Leute.
     Es erwacht des Nordlands Wirthin

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Aus dem tiefen, langen Schlummer,

Ging zur Hürde ihrer Heerden,
Lief zum Dörrhaus des Getreides,
Schaut’ sich um nach ihrer Heerde,
Zählte emsig das Getreide,
Nicht verloren war die Heerde,
Nicht geplündert das Getreide.
     Ging dann zu dem Felsenberge,
Zu des Kupferberges Eingang,
Sprach, als sie dort angekommen:

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„Weh mir Armen ob des Lebens!

Ist ein Fremder hier gegangen,
Alle Schlösser sind gesprenget,
Aufgemacht der Feste Thore,
Alle Angeln sind zerschlagen;
Sollt’ der Sampo wohl geraubet,
Fortgeführt sein durch Gewaltthat?“
     Wohl entführet war der Sampo,
Fortgeschleppt der bunte Deckel
Aus dem Steinberg von Pohjola,

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Aus des Kupferberges Innerm,

Hinter neun der besten Schlösser,
Hinter zehn, zählt man den Riegel.

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_247.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)