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Von dem Berge rief die Beere,
Von der Flur die Preiselbeere:
„Komm, o Jungfrau, mich zu pflücken,
Komm, o Frische, mich zu lesen,
Mich, o Zinnbrust, auszureißen,
Mit dem Kupfergurt zu wählen,
Ehe mich die Schnecke zehret,
Mich der schwarze Wurm liebkoset!
Hundert haben mich gesehen,

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Tausend also da gesessen,

Hundert Mädchen, tausend Weiber,
Kinder auch in großen Schaaren,
Keiner hat mich je berühret,
Hat mich Arme je gepflücket.“
     Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Ging ein wenig auf dem Wege,
Ging die Beere anzuschauen,
Ging die rothe abzupflücken
Mit den schönen Fingerspitzen,

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Mit den wunderhübschen Händen.

     Sieht die Beere an dem Berge,
Auf der Flur die Preiselbeere;
Ist der Form nach eine Beere,
Eine Preiselbeere deutlich,
Doch nicht konnt’ man sie vom Boden,
Nicht vom Baume aus sie fassen.
     Nahm ein Stäbchen von der Heide,
Um die Beer’ herabzudrücken;
Von dem Boden stieg die Beere

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Hin auf ihre schönen Schuhe,

Von den schönen Lederschuhen
Auf das Knie der keuschen Jungfrau,
Von dem Knie der keuschen Jungfrau
Auf den Saum, der munter rauschte.
     Stieg dann zu des Gürtels Streifen,
Von dem Gürtel zu den Brüsten,
Von den Brüsten zu dem Kinne,
Von dem Kinne zu den Lippen,
Schlüpfte dann zu ihrem Munde,

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Schaukelt’ sich auf ihrer Zunge,

Von der Zunge zu der Kehle,
Eilet darauf in den Magen.
     Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Ward hiedurch nun voll und schwanger,
Sie erlangte große Fülle
Und ihr Leib ward voller Schwere.
     Fing an ohne Schnür’ zu gehen,
Ohne Gürtel sich zu kleiden,
In die Badestub’ zu gehen,

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In der Finsterniß zu weilen.

     Immer dachte schon die Mutter,
Überlegte so die Alte:
„Was geschah wohl mit Marjatta,
Was mit unserm lieben Hühnchen,
Daß sie ohne Schnüre schreitet,
Ohne Gürtel stets sich kleidet,
In die Badstub’ heimlich gehet,
In dem finstern Raume weilet?“
     Also redete ein Kindlein,

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Sprach ein Kindlein diese Worte:

„Das geschah mit der Marjatta,
Dieses Unheil mit der Armen,
Da sie lange auf der Weide,
Lange bei der Heerde weilte.“
     Und es trug des Leibes Schwere,
Seine Fülle sie mit Schmerzen,
Sieben Monat, ja den achten,
Neun der Monde nach einander,
Nach der Rechnung alter Weiber

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Noch des zehnten Monats Hälfte.

     In dem zehnten dieser Monde
Kam die Jungfrau recht in Schmerzen,
Hart gestaltet sich der Leib ihr,
Drückte sie mit großen Qualen.
     Bittet um ein Bad die Mutter:
„Theure Mutter, die ich liebe!
Gieb mir eine warme Stelle,
Eine Stätte, die erwärmet,
Daß das Mädchen sich dort rein’ge,

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Dort das Weib die Wehen trage!“

     Sprach die Mutter diese Worte,
Giebt die Alte ihr zur Antwort:
„Wehe dir, du Hiisi-Buhle!
Neben wem hast du geruhet,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_290.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)