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Voltaire: Kandide. Erster Theil

nach vierzehn Tagen wieder auf den Beinen war.

Der Barbier that sich nach einem Dienst für mich um, und brachte mich als Lakai bei einem Maltheserritter an, der nach Venedig ging. Da ich aber von diesem meinen Herrn keine Zahlung erlangen konnte, so begab ich mich bei einem Venedischen Kaufmann in Dienste, welcher nach Konstantinopel reiste.

Eines Tages kam ich auf den Einfall, in eine Moschee zu gehn; es befand sich niemand weiter darin als ein alter Iman[1] und eine junge Andächtige; ein gar niedliches Dingelchen, das ihr Paternoster hersagte. Ihr liebreizender Busen war ganz unverhüllt. Ein schöner Straus von Tulpen, Rosen, Anemonen, Ranunkeln, Hiazinten und Bergschlüsselblumen stekte zwischen den warm wallenden Marmorhügeln, die so stark hüpften, daß sie den Straus auf die Erde fallen machten. Ich flog hinzu, hob ihn auf, und stekte ihn wieder vor, mit einer sehr ehrfurchtsvollen Geschäftigkeit und Zärtlichkeit.

Beim Anordnen der Blumen bracht’ ich so lange zu, daß der Iman in Harnisch geriet, und um Hülfe rief, weil er sahe, daß ich ein Christ war. Man führte mich vor den Kadi, der mir

  1. Iman, ein muhamedanischer Priester oder Pfarrer.
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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg. 1782, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_190.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)