Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1850 II 199.jpg

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Das treue Thier zog seinen Herrn wieder von dem Abgrund zurück und leitete ihn zu einem Baum, an dem ein klarer Bach floß. Der Königssohn setzte sich da nieder, der Löwe aber legte sich und spritzte mit seiner Tatze ihm das Wasser ins Antlitz. Kaum hatten ein paar Tröpfchen die Augenhöhlen benetzt, so konnte er wieder etwas sehen und bemerkte ein Vöglein, das flog ganz nah vorbei, stieß sich aber an einen Baumstamm: hierauf ließ es sich in das Wasser herab und badete sich darin, dann flog es auf, strich ohne anzustoßen zwischen den Bäumen hin, als hätte es sein Gesicht wieder bekommen. Da erkannte der Königssohn den Wink Gottes, neigte sich herab zu dem Wasser und wusch und badete sich darin das Gesicht. Und als er sich aufrichtete, hatte er seine Augen wieder so hell und rein, wie sie nie gewesen waren.

Der Königssohn dankte Gott für die große Gnade und zog mit seinem Löwen weiter in der Welt herum. Nun trug es sich zu daß er vor ein Schloß kam, welches verwünscht war. In dem Thor stand eine Jungfrau von schöner Gestalt und feinem Antlitz, aber sie war ganz schwarz. Sie redete ihn an und sprach „ach, könntest du mich erlösen aus dem bösen Zauber, der über mich geworfen ist.“ „Was soll ich thun?“ sprach der Königssohn. Die Jungfrau antwortete „drei Nächte mußt du in dem großen Saal des verwünschten Schlosses zubringen, aber es darf keine Furcht in dein Herz kommen. Wenn sie dich auf das ärgste quälen und du hälst es aus ohne einen Laut von dir zu geben, so bin ich erlöst; das Leben dürfen sie dir nicht nehmen.“ Da sprach der Königssohn „ich fürchte mich nicht, ich wills mit Gottes Hülfe versuchen.“

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 2 (1850). Göttingen 1850, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1850_II_199.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)