Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1857 II 395.jpg

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186.


Die wahre Braut.


Es war einmal ein Mädchen, das war jung und schön, aber seine Mutter war ihm früh gestorben, und die Stiefmutter that ihm alles gebrannte Herzeleid an. Wenn sie ihm eine Arbeit auftrug, sie mochte noch so schwer sein, so gieng es unverdrossen daran und that was in seinen Kräften stand. Aber es konnte damit das Herz der bösen Frau nicht rühren, immer war sie unzufrieden, immer war es nicht genug. Je fleißiger es arbeitete, je mehr ward ihm aufgelegt, und sie hatte keinen andern Gedanken, als wie sie ihm eine immer größere Last aufbürden und das Leben recht sauer machen wollte.

Eines Tags sagte sie zu ihm „da hast du zwölf Pfund Federn, die sollst du abschleißen, und wenn du nicht heute Abend damit fertig bist, so wartet eine Tracht Schläge auf dich. Meinst du, du könntest den ganzen Tag faullenzen?“ Das arme Mädchen setzte sich zu der Arbeit nieder, aber die Thränen flossen ihm dabei über die Wangen herab, denn es sah wohl daß es unmöglich war mit der Arbeit in einem Tage zu Ende zu kommen. Wenn es ein Häufchen Federn vor sich liegen hatte und es seufzte oder schlug in seiner Angst die Hände zusammen, so stoben sie aus einander und es mußte sie wieder auflesen[1] und von neuem anfangen. Da stützte es einmal die Elbogen auf den Tisch, legte sein Gesicht in beide Hände, und rief „ist denn niemand auf Gottes Erdboden, der sich meiner erbarmt?“ Indem hörte es eine sanfte Stimme, die sprach „tröste dich, mein Kind, ich bin gekommen dir zu helfen.“


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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 2 (1857). Göttingen 1857, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1857_II_395.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)