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von sich abzustoßen, da sie seine klaren Teiche nur trüben konnten, in denen so rein sich Mond und Sonne spiegelten, ging bis zur Brutalität gegen sich und seine Mitmenschen. Er mußte sich ganz behaupten. Er handelte in Notwehr. Im Alter nahm er eine künstlich konzipierte Steifheit zu Hilfe, um jene Menschen von sich fernzuhalten, die ihn seiner selbst beraubten. Es war jene hochmütige Geheimratsgeste, von der so manche Besucher seines Hauses in ihrer Briefen und Tagebüchern entsetzt und enttäuscht erzählen. Er saß wie Archimedes im Garten auf einer Bank und zeichnete mit einem Stock im Sande seine Kreise, die niemand stören durfte, als der Wind oder der Regen. Denn diese waren Naturkräfte wie er.

In seinem Leben spielen die Frauen eine entscheidende Rolle. Seine Männerfreundschaften: mit Herder, mit Merck, mit Knebel, Tischbein usw. waren trotz aller Herzlichkeit oder Interessiertheit doch nur Episoden. Von allen Männern die seinen Weg kreuzten, ist für uns Nachlebende der getreue Eckermann der wichtigste, der, jahrelang sein Sekretär und Famulus, in seinen „Gesprächen mit Goethe“ uns die lebendigste und persönlichste Darstellung seines Wesens und Wirkens hinterlassen hat. Goethes Genie fand seine Befruchtung und Erlösung aber immer erst durch die Genien der Frauen, die er liebte. Sie sind die unbewußten Mithelferinnen an seinem Werk, das deutsche Volk hat alle Ursache, sich vor ihnen in Dankbarkeit und Ehrfurcht zu verneigen und sogenannten Literarhistorikern, die sich nicht schämen, Schmutz auf sie zu werfen, gebieterisch die Tür zu weisen. Kätchen Schönkopf, seine Leipziger Studentenliebe, ewig zwitschernd wie ein Kanarienvogel, aber launisch wie ein Papagei, Friederike Brion, die elegische Sesenheimer Pfarrerstochter, die blonde Charlotte Buff, Braut seines Freundes Kestner, der wir den zärtlichen Briefroman „Werther“ verdanken; die wie aus einer griechischen Gemme[1] geschnittene Frau von Stein, die glücklichste und unglücklichste Liebe seines Lebens;

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemme (lat.), vertieft geschnittener Schmuckstein
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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_047.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)