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(Alba). Die Liebe Egmonts zu einem kleinen Bürgermädchen symbolisiert die Liebe Goethes zu Christiane. In dem opernhaften letzten Bilde erscheint ihm auf dem Wege zum Schaffot die Geliebte, die Insignien der beiden hehrsten Ideale: Liebe und Freiheit in ihren Händen haltend. Neben dem Faust gebührt der „Iphigenie“ unter den Goetheschen Dramen der Kranz. Das Gretchen im Faust ist ein einfaches Kind voll unbewußter Reinheit und Jungfräulichkeit; in Iphigenie wird die Reinheit sich bewußt und lauterster Wille und durchdachteste und durchfühlteste Wahrheit. Lieber Arges leiden als Böses auch nur denken, auch das Beste nicht durch Lüge erreichen wollen: ist das thematische Motiv. Sprachlich ist das Werk von der ersten bis zur letzten Zeile vollkommen. Die schönsten Jamben der deutschen Sprache erklingen, und sollten deutsche Dichter je einmal wieder Jamben schreiben wollen: sie mögen zuerst die Iphigenie lesen und sie werden es schamvoll bleiben lassen. Das Drama „Tasso“ ist der „Iphigenie“ verwandt: stilistisch und geistig. Die Handlung soll an einem mittelalterlichen Hof vor sich gehen: aber sie passiert recht eigentlich im Herzen des Dichters. Die Prinzessinnen sind nur Figuren seiner eigenen Phantasie, und auch sein Freund Antonio kriecht aus einer dunklen Ecke seines Gefühlslebens. „Iphigenie“ und „Tasso“ wurden von der Nation ziemlich kühl ausgenommen: die Revolution in Frankreich hielt die Welt in fieberhafter Spannung. Wir haben schon längst wieder eine neue Revolution, die jener an Gewalt nicht nachsteht: der Befreiung des Bürgers, die 1789 erfolgte, soll die Befreiung des Arbeiters folgen. Aber alle Revolutionen überdauern wird das heilige Lächeln der Iphigenie und der Schrei des Dichters im Tasso:

Denn, wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.

Denn hier geht es nicht um die Befreiung einer Klasse, sondern

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_052.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)