Seite:Landstreicherleben 077.jpg

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habe, kam und öffnete. Man führte uns dann in eine weite Halle, wo dreißig Individuen, Männer und Weiber, rauchten und tranken, über- und untereinander, in Ausschweifungen und widerlichen Stellungen beieinander. Unter ihren blauen, mit roten Stickereien verzierten Kitteln trugen die Männer jene Westen von marineblauem Samt mit Silberknöpfen, wie man sie bei den andalusischen Maultiertreibern sieht; die Kleider der Frauen waren alle von greller Farbe. Es waren bösartige Gesichter unter ihnen, trotzdem war man auf einem Feste. Der eintönige Schall der baskischen Trommel mischte sich unter das Geheul zweier Hunde, die an die Tischfüße angebunden waren, und das alles begleiteten seltsame wilde Gesänge, die man doch für Leichenpsalmen hätte nehmen können. Tabakrauch und Holzkohlenqualm erfüllten diese Höhle, und man konnte nur mit Mühe durch den Dunst wahrnehmen, wie inmitten des Raumes eine Frau in einem Scharlachturban einen wilden Tanz ausführte und die laszivsten Stellungen darbot.

Sowie man uns erblickte, wurde das Fest unterbrochen. Die Männer kamen herbei, um Christian die Hand zu drücken, die Frauen küßten ihn; dann wandten sich aller Augen auf mich, und ich befand mich gar nicht wohl dabei. Man hatte mir von Zigeunern eine Menge Geschichten erzählt, die nicht sehr dazu dienten, mich zu beruhigen. Sie konnten doch aus meinen Skrupeln irgendeinen Verdacht schöpfen und mich aus der Welt schaffen, ohne daß irgendein Mensch geahnt hätte, was mit mir geschehen war, denn niemand konnte mich in diesem Schlupfloch vermuten. Meine Unruhe wurde so stark, daß sie Christian auffiel. Er suchte mich ganz zu beruhigen, indem er mir sagte, daß wir hier bei der „Herzogin“ seien, und ganz in Sicherheit. Immerhin zwang mich mein Hunger, am Mahle teilzunehmen. Der Krug mit Genever füllte und leerte sich so oft, daß ich das Bedürfnis fühlte ins Bett zu kommen. Beim ersten Wort, das ich Christian davon sagte, führte er mich in einen anstoßenden Raum, wo schon einige Zigeuner auf dem frischen Stroh schliefen.

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_077.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)