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genommen hatte, versicherte, meine Hände mit Blut beschmiert gesehen zu haben. Aber dieses Blut kam von einer Wunde, die ich erhalten hatte, als ich die Fensterscheibe zerbrach, um den Fensterladen zu öffnen; und zur Unterstützung dieser Aussage konnte ich zwei Zeugen aufbringen. Bald darauf hatte mein Advokat auch dafür gesorgt, daß die Anklage wegen Mordes gegen mich niedergeschlagen wurde. So war ich von einer ungeheueren Last befreit, aber immer noch im Gefängnis. Jetzt dachte ich gar nicht mehr daran zu fliehen. Da bot sich mir eines Tages eine Gelegenheit dar, die ich sozusagen instinktmäßig ergriff. In der Zelle, in die man mich gebracht hatte, waren meist solche Gefangene, die weitertransportiert wurden. Eines Morgens, als der Gefängniswärter zwei von ihnen holt, vergißt er die Tür zu schließen. Das bemerkte ich sogleich: in das Erdgeschoß hinabsteigen und alles untersuchen, ist Sache eines Augenblicks. Der Tag war kaum noch angebrochen, und da die Gefangenen noch alle schliefen, so treffe ich niemanden auf der Treppe und niemanden an der Tür. Ich schleiche hinaus. Aber in der gegenüberliegenden Kneipe trinkt der Gefängniswärter gerade ein Glas Branntwein. Er bemerkt mich, und stürzt mir nach, indem er aus vollem Halse schreit: „Haltet ihn, halten ihn!“ Doch er schrie vergeblich, die Straßen waren alle leer, und die Hoffnung auf Freiheit lieh mir Flügel. In einigen Minuten war ich aus dem Gesichtskreis des Gefängniswärters verschwunden, und bald kam ich in einem Hause unter, wo ich sicher war, nicht gesucht zu werden. Nun mußte ich aber so schnell wie möglich Lille verlassen, denn dort war ich zu bekannt, als daß ich längere Zeit hätte in Sicherheit bleiben können.

Bei Einbruch der Nacht merkte ich, daß die Stadttore geschlossen waren. Man konnte nur durch ein Gittertürchen gehen, an dem sich Polizeiagenten und verkleidete Gendarmen befanden, um jeden Vorübergehenden genau feststellen zu können. Zum Tore konnte ich also nicht hinaus. So entschloß ich mich, zu fliehen, indem ich über die Verschanzungen herabkletterte. Und da

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_096.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)