Seite:Landstreicherleben 097.jpg

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ich die Stadt genau kannte, so begab ich mich nachts um zehn Uhr auf die Bastion Notre-Dame, einen Ort, den ich für den geeignetsten zur Ausführung meines Planes hielt. Ich band einen Strick, den ich mir besonders hierzu hatte kaufen lassen, an einem Baum fest, und dann rutschte ich daran hinab. Aber bald zog mich das Gewicht meines Körpers schneller hinab als ich vermutet hatte, die Reibung des Strickes wurde so glühend in meine Händen, daß ich ihn, fünfzehn Fuß vom Boden entfernt, loslassen mußte. Ich fiel und verstauchte mir den rechten Fuß so, daß ich beinah nicht aus dem Graben herauskriechen konnte. Mit ungeheuren Anstrengungen gelang mir das endlich, aber als ich auf der anderen Seiten der Böschung war, war es mir unmöglich, weiterzugehen.

Da lag ich nun und verwünschte den Graben, den Strick und die Verstauchung, aber das half mir alles nichts. Endlich sah ich einen Mann, der in der Nähe mit einem der in Flandern so gebräuchlichen Schubkarren vorbeizog. Ich rief ihn an und bot ihm einen Sechsfrankentaler, den einzigen, den ich noch besaß. Er lud mich auf seine Karre und brachte mich in das benachbarte Dorf. In seiner Wohnung legte er mich in sein Bett und rieb mir den Fuß mit Seifenspiritus ein. Seine Frau half ihm dabei aufs beste und sah sich dabei, immerhin mit einigem Erstaunen, meine Kleider an, die vom Schlamm des Grabens ganz beschmutzt waren. Man verlangte zwar keine Aufklärung von mir, aber ich sah wohl ein, daß ich ihnen eine geben mußte. Ich sagte ihnen daher mit kurzen Worten, ich hätte geschmuggelten Tabak über den Wall hinaufschaffen wollen, und sei dabei herabgefallen; meine Kameraden, durch Zollwächter verfolgt, seien gezwungen worden, mich im Stiche zu lassen. Und ich lege nun, fügte ich hinzu, mein Schicksal in die Hände meiner Wirte. Aber die braven Leute, die die Zollwächter ebensosehr haßten, wie jeder Bewohner an irgendeiner Grenze, gaben mir die Versicherung, daß sie mich für nichts in der Welt verraten würden. Um sie zu prüfen, fragte ich, ob es kein Mittel gäbe, mich

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_097.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)