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ebensowenig ankleiden wie auskleiden wollte, so stand ich gleich auf, steckte die Lampe wieder an und zog mein Kleid an. Dann kniete ich in einer Ecke der Kammer nieder und tat, als betete ich, bis die Familie aufwachte. Das ließ nicht lange auf sich warten. Um fünf Uhr rief die Mutter aus ihrem Bette: „Jeanne … aufgestanden … Mach für die Schwester eine Suppe, sie will früh weggehen.“

Jeanne steht auf; die Buttermilchsuppe ist bald gemacht und wird mit viel Appetit verzehrt. Ich verabschiede mich von den guten Leuten, die mich so prachtvoll aufgenommen hatten.

Nach einem tüchtigen Tagesmarsch befand ich mich abends in einem Dorf in der Nähe von Vannes; hier merkte ich erst, daß ich mich durch falsche oder falsch verstandene Angaben verirrt hatte. Ich übernachtete in diesem Dorf und passierte in aller Herrgottsfrühe Vannes. Meine Absicht war, Rennes zu erreichen, von wo aus ich leicht nach Paris zu kommen hoffte. Beim Verlassen von Vannes hatte ich aber eine Begegnung, die mich bewog, meinen Plan zu ändern. Auf demselben Wege trottete nämlich eine Frau mit einem kleinen Kinde. Sie trug auf ihrem Rücken einen Kasten mit Reliquien. Diese zeigte sie in den Dörfern, sang die Litanei und verkaufte Sankt-Hubertus-Ringe und geweihte Rosenkränze. Die Frau sagte, sie gehe querfeldein nach Nantes. Ich hatte soviel Interesse daran, die Landstraße zu meiden, daß ich keinen Augenblick zögerte und meiner neuen Führerin folgte. Nantes bot mir außerdem noch mehr Vorteile als Rennes, wie man sogleich sehen wird.

Nach einer achttägigen Fußwanderung kamen wir in Nantes an, und hier verließ ich die Frau mit den Reliquien. Sie logierte sich in einer Vorstadt ein, ich aber suchte nach der „Insel Feydeau“ zu kommen. Während meines Aufenthaltes in Bicêtre hatte ich von einem gewissen Grenier, der aus Nantes war, gehört, daß sich in einem bestimmten Viertel der Stadt eine Art Herberge befindet, wo die Diebe sich versammelten, ohne fürchten zu müssen, entdeckt zu werden. Ich wußte, daß die

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_152.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)