Seite:Landstreicherleben 217.jpg

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mir die Möglichkeit, ihnen zu entkommen, und sie warteten noch auf mich, als ich schon längst bei meiner Mutter war.

In der Zitadelle von Arras befanden sich zu jener Zeit einige hundert gefangene Österreicher, die in der Stadt und in der Umgegend auf Arbeit gehen durften. Mir kam der Einfall, mir diese Ausländer zunutze zu machen. Da ich deutsch sprach, ließ ich mich mit einem von ihnen in ein Gespräch ein und verstand es bald genug, so sehr sein Vertrauen zu erwecken, daß er mir gestand, er trage sich mit Fluchtgedanken … Das paßte mir großartig; der Gefangene war nur wegen seiner „kaiserlichen“ Uniform in Verlegenheit, ich bot ihm meine Kleider zum Tausch dafür an und für ein wenig Geld gab er mir auch seine Papiere gern. Und nun galt ich als Österreicher selbst unter den Österreichern, denn sie gehörten zu verschiedenen Korps und kannten einander nicht.

In dieser neuen Verkleidung knüpfte ich ein Verhältnis mit einer jungen Witwe an, die einen Kurzwarenladen hatte. Sie lobte meine Intelligenz und wollte, daß ich zu ihr ziehe; bald fuhren wir zusammen auf Märkten und Messen umher. Natürlich mußte ich als ihr Gehilfe mich den Käufern irgendwie verständlich machen. Ich zimmerte mir ein Kauderwelsch halb aus Französisch halb aus Deutsch zusammen, an das ich mich bald so gewöhnt hatte, daß ich beinahe meine Muttersprache vergaß. Die Täuschung gelang so vollkommen, daß nach vier Monaten des Zusammenwohnens die Witwe selbst nicht einmal ahnte, daß ihr „Kaiserlik“ einer ihrer Jugendfreunde sei. Sie behandelte mich so gut, daß es mir als unmöglich erschien, sie noch weiter zu täuschen: eine Tages sagte ich ihr, wer ich war. Noch nie war ein Weib erstaunter als sie. Aber meine Vertrauensseligkeit schadete mir nicht in ihren Augen und machte unsere Beziehungen nur noch inniger.

Elf Monate verstrichen, und meine Sicherheit wurde durch nichts gestört. Man war gewohnt, mich in der Stadt zu sehen, ich traf mich oft mit Polizeiagenten – kurz, alles schien diesem

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_217.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)