Seite:Landstreicherleben 254.jpg

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Die tote Saison kam heran, und wir hatten noch keine Beute gemacht. Der Kapitän hüllte sich in Schweigen und ließ die Ohren hängen; Fleuriot war verzweifelt, er fluchte, er tobte von morgens früh bis abends spät; die ganze Mannschaft verzehrte sich in Untätigkeit … In dieser Stimmung würden wir, glaube ich, selbst einen Dreimaster angegriffen haben.

Es war Mitternacht: wir verließen eine kleine Bucht bei Dünkirchen und steuerten der englischen Küste zu; plötzlich bricht der Mond hinter den Wolken hervor und streut sein Licht über die Wellen; ganz nah von uns schimmern weiße Segel. Es ist eine Kriegsbrigg. Paulet erkennt sie sofort.

„Kinder,“ ruft er, „sie ist unser!“

Im Handumdrehen hat er geentert. Die Engländer verteidigten sich wütend, an Bord entbrannte ein schrecklicher Kampf. Fleuriot, der seiner Gewohnheit nach als erster hinüberstieg, fiel; Paulet wurde verwundet, aber er rächte seine Wunde und rächte seinen Leutnant: er hieb alles rings um sich nieder; – noch nie habe ich ein solches Gemetzel gesehen. In weniger als zehn Minuten waren wir die Herren an Bord, und an Stelle der roten Flagge wurde die Trikolore gehißt. Wir hatten zwölf Mann im Kampf verloren.

Unter den Gefallenen war auch ein gewisser Lebel, der mir dermaßen ähnlich sah, daß es Tag für Tag Verwechslungen gab. Nun fiel mir ein, daß die Papiere meines Doppelgängers in bester Ordnung waren. „Hol’s der Teufel!“ dachte ich bei mir, „die Gelegenheit ist günstig; man weiß nicht, was da kommen kann. Der Lebel wird zu den Fischen expediert werden und braucht seinen Paß nicht mehr, diesen Paß, der so großartig auf mich stimmt!“

Die Idee schien mir ausgezeichnet zu sein; ich befürchtete nur eines, nämlich, daß Lebel seine Brieftasche auf dem Büro des Reeders deponiert haben mochte. Ich war außer mir vor Freude, als ich sie auf seiner Brust anfühlte; unbemerkt bemächtigte ich mich ihrer, und als die Säcke mit den Leichen ins Meer versenkt

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_254.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)