Seite:Landstreicherleben 257.jpg

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Vielleicht waren es zwei Liebende. Ihr Schicksal berührte mich stark, aber andere Sorgen lenkten mich von meinem Mitgefühl ab. Die ganze Bevölkerung des Dorfes, Weiber, Kinder, Greise, waren am Strand zusammengeströmt. Die Familien von hundertfünfzig Fischern waren in fürchterlicher Verzweiflung beim Anblick der schwachen Fahrzeuge, auf die sechs englische Linienschiffe blitzend Jagd machten, und die festen Massen der letzteren trotzten sogar dem Meere in seiner Wut. Mit einer Angst, die sich eher begreifen als beschreiben läßt, folgte jeder Zuschauer mit den Augen dem Boote, das für ihn in Betracht kam, und je nachdem ob es sich rettete oder unterging, erfolgten Schreie, Klagen und Tränen oder Ausdrücke der tollsten Freude. Frauen, Mädchen, Mütter, Gattinnen rauften sich die Haare, zerrissen sich die Kleider und wälzten sich unter Flüchen und Verwünschungen am Boden; andere tanzten, sangen, während noch Tränen in ihren Augen standen, und zeigten die ausgelassenste Freude: die glühenden Gelübde, der Schutz des wundertätigen heiligen Nikolaus, die Wirksamkeit seiner Einmischung – alles war vergessen. Vielleicht erinnerte man sich am Tage darauf wieder daran, aber vielleicht schenkte man da auch seinem Nächsten etwas Mitleid, aber während des Sturmes herrschte nichts als Egoismus … Man hatte mir’s ja schon gesagt: „Jeder ist sich selbst am nächsten!“

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_257.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)