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der Tat, in weniger als vier Stunden hatte ich einen richtigen Schlüssel ausgearbeitet. Ich probierte ihn, er öffnete vorzüglich, einige Striche mit der Feile machten ein wahres Meisterstück aus ihm. Und so konnte ich, wie die anderen, so oft ins Haus kommen, wie ich wollte.

Ich war Frau Noëls Kostgänger. Nach Tisch sagte ich, daß ich in der Dämmerung gerne ausgehen wollte, um nachzusehen, ob die „Sache“, die ich in Aussicht hätte, ausführbar sei. Sie fand das ganz richtig, aber sie empfahl mir große Vorsicht.

Soweit ging mir alles nach Wunsch; man hätte nicht höher in der Gunst der Frau Noël stehen können. Aber wer garantierte mir dafür, daß ich, wenn ich in ihrem Hause bliebe, nicht niedergemacht würde? Wie leicht konnten zwei, drei Sträflinge auf einmal kommen, mich erkennen und mir den Garaus machen. Ich suchte sie also so weit zu bringen, daß sie mir selbst riet, nicht in ihrer Wohnung zu schlafen.

Ich hatte gemerkt, daß Frau Noël mit einer Obsthändlerin befreundet war, die in demselben Hause wohnte. Zu dieser Frau schickte ich einen meiner Getreuen, Manceau, mit dem Auftrag, sie auf geheimnisvolle, aber recht ungeschickte Art über Frau Noël auszufragen. Ich legte ihm alle Fragen in den Mund, und daß die gute Frau alles ihrer Freundin sofort mitteilen würde – davon war ich um so mehr überzeugt, als ihr mein Helfershelfer strengste Verschwiegenheit anempfahl.

Der Erfolg zeigte, daß ich mich nicht geirrt hatte. Kaum hatte mein Agent den Auftrag erfüllt, als die Obsthändlerin nichts eiligeres zu tun hatte, als alles der Frau Noël zu berichten. Diese ihrerseits versäumte nicht, mich ins Vertrauen zu ziehen. Sie stellte sich an dem benachbarten Hause auf Posten, wartete mich ab, lief mir, als sie mich kommen sah, entgegen und sagte mir ohne jede Einleitung, ich möge ihr folgen. Ich tat es auch. Erst auf der Place des Victoires blieb sie stehen, sah sich um, und als sie sich vergewissert hatte, daß uns niemand sah, ging sie auf mich zu und erzählte mir alles.


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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_350.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)