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„Gewiß, als ich ihr von Ihnen erzählte, hat sie Sie mir aufs Haar beschrieben. Etwas mager,“ sagte sie, „und hat die Nase ewig voll Tabak.“

Frau Noël bedauerte sehr, daß ich die Dame verpaßt hatte; ich selbst mußte mich darüber natürlich sehr freuen. Um eine solche Begegnung zu vermeiden, ließ ich von nun ab jedesmal, wenn ich kommen sollte, meinen angeblichen Schwager vorausgehen; wenn niemand da war, gab er mir dann ein Zeichen aus dem Fenster. Dann kam ich, und mein Helfershelfer stellte sich auf Wache in der Straße, um mir jede unangenehme Überraschung zu ersparen. In der Nähe hielten sich noch weitere Agenten auf; denen hatte ich den Schlüssel zu Mama Noëls Wohnung anvertraut, damit sie mir im Fall der Gefahr beispringen könnten. Jeden Augenblick konnte es ja geschehen, daß die Sträflinge unerwarteterweise eintrafen, mich erkannten und mich anfielen – ein Faustschlag gegen eine Fensterscheibe sollte als Signal dienen, daß ich Hilfe zum ungleichen Kampf brauchte.

Man sieht, alle Vorsichtsmaßregeln waren von mir getroffen. Die Entwicklung ging ihrem Ende entgegen. Es war an einem Dienstag; ein Brief von den Leuten, die ich suchte, kündigte ihren Besuch für den nächsten Freitag an. Dieser Freitag sollte ihr Unglückstag werden. Frühmorgens setzte ich mich in einen Schenke in der Nachbarschaft, damit sie mich nicht beim Kommen in der Straße treffen könnten, und schickte zur Verhütung jeder Gefahr meinen angeblichen Schwager zu Frau Noël voraus. Er kam bald zurück und meldete, die Schwester von Marguerit sei nicht da, und ich könnte ruhig hingehen.

„Betrügst du mich auch nicht?“ rief ich: die Stimme des Agenten kam mir seltsam verändert vor. Ich heftete einen Blick auf ihn, der ihm in die Tiefe der Seele drang, ich glaubte auf seinem Gesichte eine jener schlecht verhehlten Muskelzuckungen wahrzunehmen, die eine Lüge begleiten; ich weiß selbst nicht, was mich ahnen ließ, daß ich es mit einem Verräter zu tun hatte. Dieser erste Eindruck kam mir wie ein Lichtstrahl. Wir befanden

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_352.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)