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Sprechstunde am Kreuz

Unter den vielen Biographien, die zur Zeit auf uns herunterprasseln, scheint es mir eine zu geben, die nicht zu schreiben ist: das Leben Jesu. Der Mann ist nicht „interessant“ gewesen, und es ist sehr bezeichnend, daß die guten Bücher, die über ihn handeln, ganz etwas andres zum Thema haben als ihn und seine höchst verschwommen überlieferte Legende – sie befassen sich nämlich alle mit dem, was aus seiner Lehre geworden ist, und nicht nur mit dem, der sie in die Welt gesetzt hat.

Eine Zeitlang fielen die Oberlehrer über die Historie her, vorher waren es die Priester gewesen, die einen und andern examinierten die armen Helden ja nicht schlecht: wie hältst dus mit der Religion? und es gibt ganze Gebiete, wie zum Beispiel die deutsche Literatur, die nur von den transpirationsduftenden Lehrern mit den erhobenen Zeigefingern überliefert wurde. Daß Hölderlin oder Goethe den Deutschen durch Herrn Eduard Engel vermittelt wird, ist bitter. Goethe hat es vorausgewußt.

Nach den Paukern kamen die Ärzte, und im Nu verwandelte sich der Olymp in eine kassenärztliche Sprechstunde. Mohammed: ein Epileptiker; Buddha: ein schizophrener Irrer, kaltes Sitzbad, raus; Napoleon: ein wildgewordener Psychopath, d. u. – und so fort und so fort. Nach den Ärzten kamen die Soziologen, die das Einkommen Robespierres prüfen, und da halten wir heute noch. So schafft sich jede Zeit die alten Helden zu neuen Männern, nach Maß, wie sie sie grade braucht.

Empfohlene Zitierweise:
Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_229.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)