Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band | |
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Seite wirft der Rhein tief im Thale seine empörten Wogen schäumend über Klippen. Auf den beiden Ufern erheben sich Felsenmassen zu Bergen, als ewige Vormauern gegen den wüthenden Strom, und sehen ernst und still auf sein furchtbares Tosen herab. Hatto’s Thurm, der Thurm der grauenvollen Sage, stets umtobt von der wilden Brandung, steht mitten in den Fluthen; ihm gegenüber sieht man die leichten Schiffchen wie im Tanze dem immerkreisenden Strudel des Bingerloches vorüberschweben und sich bald darauf im dunkeln Felsgeklüfte verlieren. Seitwärts strömt die Nachenreiche Nahe aus ihrem romantischen Thale dem größeren Strome zu, überwölbt von der fünfbogigen Brücke. Bingen gerade gegenüber liegt Rüdesheim mit seiner alten Römerburgruine, lang hingestreckt, dahinter seine Rebenterrassen, vom Niederwald gekrönt, durch dessen dunkles Laub das weiße Gemäuer eines Kirchleins hervorschimmert, und weiter links, am Eingange des dunkeln Rheinthals, lugt wieder das pittoreske Rheinfels, gleichsam wie eine Schildwacht, herüber. – Rückwärts schauend, ragt oben von der Höhe, die herrliche Burgruine Klopp selbst empor, von deren Zinne der wagende Wanderer dieselbe Aussicht, nur reizender noch, noch einmal genießt. Sie ist unbestritten eine der schönsten der Erde. –
Und wie glücklich, – so jauchzen Tausende an dieser Stelle, – müssen die Menschen seyn, die dieses paradiesische Land bewohnen! Voll so seligen Glaubens wandern Viele aus dem Rheingau, ohne zu prüfen. Thäten sie’s, bald würden sie sich enttäuschen. – Es ist hier nicht besser, als allenthalben; die Sterblichen haben sich ungleich in den Genuß und die Arbeit getheilt. Mehr als 22,000 Menschen nähren sich im Rheingau auf kaum 20,000 Morgen bebauten Feldes; fast in keinem Lande der Erde fällt ein so kleines Stückchen ihrer Scholle dem Sterblichen zum Theil. Aber doch wären sie glücklich, – denn die Natur schüttet hier ihre Gaben in doppelter Fülle aus, – wäre der Boden, den sie bauten und mit ihrem Schweiße düngten, ihr Eigenthum. Dem ist jedoch nicht so. Bei weitem der größere Theil ist seit undenklichen Zeiten Eigenthum der Pfaffen gewesen, oder des Adels, oder beider Erben, der Fürsten; seit uralter Zeit haben List und Gewalt von diesem Paradiese so viel an sich gerissen, als sie immer zu ergreifen und zu behaupten im Stande waren. Und Jahrhunderte haben das von der List und der Stärke Errungene zum rechtmäßigen Besitze geheiligt, das Gesetz hat den schützenden Zaun um denselben gezogen und der Himmel, – er hat ja seinen Wächtern das Siegel der Unfehlbarkeit aufgedrückt! – Es ist hier wie überall, (überall auf unserer Erdhälfte wenigstens,) und es ist nie anders gewesen. Und wird es jemals anders werden? – – – „Viele für Wenige“ lautet, vollgültig, der Spruch von den Säulen des Herkules bis nach Japan, und auch im Rheingau wird der Wein nicht von Dem, der ihn gepflanzt hat, getrunken! –
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1833, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_1._Band_1._Auflage_1833.djvu/68&oldid=- (Version vom 6.6.2024)