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Seite:Meyers Universum 1. Band 1. Auflage 1833.djvu/76

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werdenden Ufer. Bald wird der Donner des Rheinsturzes hörbar. Die Nachen suchen das Ufer und der schäumende Strom ist, eine Viertelstunde von Schaffhausen, gänzlich verlassen. –

Ein Spaziergang von einer halben Stunde führt den Wanderer von Schaffhausen auf der rechten Seite des Flusses dem alten Bergschlosse Laufen gegenüber zu jenem Becken hin, in welches sich der auf 300 Fuß eingeengte Strom über eine Felsmauer von achtzig Fuß Höhe, durch zwei mitten aus den Strudeln hervorragenden Klippen ungleich in drei Theile zerspalten, siedend und dampfend herabstürzt. Ein Paar alte Mühlen sind fast in den Strom hineingebaut, und dicht dabei ist die Stelle, von der man die schönste Ansicht des erhabenen Schauspiels genießt. Sie war der Standpunkt für den Zeichner unsers Bildes.

Aber welches Bild wäre fähig, dieß Wunder der Natur treu zu veranschaulichen, welche Erinnerung so stark, es zu vergegenwärtigen in Worten? In unserm Erdtheil ist Nichts, was einen größern Begriff von der Kraft der Natur und der Allmacht ihres Schöpfers geben könnte, als der Anblick dieses ungeheuern Gewölbes von Schaumwogen, dieser donnernden Fluthenmasse, welche kochend, zischend, Wolken von Schaum dem Himmel zuspritzend, in den Abgrund dahinrollt. Der Mensch steht klein wie ein Nichts davor; keiner, ohne im Innersten erschüttert zu werden, kann den tobenden Aufruhr der losgebundenen Kräfte betrachten. Selbst der schlaffste Geist wird des Wassergetümmels nicht satt werden, hundertmal kann man’s sehen, und eben soviel mal wird der erste Eindruck neu und ungeschwächt wiederkehren. Dem Schauenden ist’s, als ob er in Gottes heiligster Werkstatt sich befände, – er fühlt sich selbst nicht mehr, – seine ganze Seele ist nur Auge und Ohr. – Aufgelöst zu tausend Quellen, die Quellen zu Milliarden Wasserstäubchen, sieht er den majestätischen Strom aus dem Abgrund in Dampf und Rauch sich aufkräuseln und sich drehen wie im Wirbelwind das dürre Laub; der feste Boden unter seinen Füßen zittert und die das Getümmel der Gewässer überschauenden Felsen schütteln ihre schwarzen Häupter, gleichsam als entsetzten sie sich der Wuth des erzürnten Elements. Das Erbeben, das Donnerbrausen des Wassersturms über, um und unter ihn durchfährt seine Seele wie Musik der Cherubim und heilig! heilig! heilig! brüllt’s und bebt’s ihm durch Mark und Gebein.

Am Allererhabensten ist der Anblick in stiller, schweigsamer Nacht beim zitternden Lichte des Vollmondes. Dann erscheinen die grauen Felsen wie riesige Engel, die weißen Schaum- und Wasserstaubwolken wie deren Gewänder, und selbst der fühlloseste und ungläubigste Mensch kann sich der Schauer religiöser Gefühle nicht erwehren. Mancher hat an der Stelle gebetet, der nie betete, mancher stolze Wüstling und Bösewicht erflehete in heißen Thränen des Schmerzes, der Reue und der Wehmuth vom Ewigen hier ein Zeichen, daß er ihn höre. So öffnet der Anblick der unendlichen Kraft und Hoheit der Natur, vor welcher alles Hohe im Menschen verrinnt wie ein Tropfen im Meer, das zagende Herz der tröstenden Religion und führt den schwachen Sterblichen zum Glauben an Gott und die Ewigkeit.