Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
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der Untersuchung der Höhlen, die der Einzelne ohne Lebensgefahr nicht betreten durfte, Aufmerksamkeit und die nöthigen Mittel widmeten. 1824 wurde Hauptmann Sykes mit einem Detaschement brittischer Truppen ausgesendet, die Raubnester der Gegend zu vertilgen, und diesem Auftrage verdanken wir die sorgfältigste Erforschung jener räthselhaften Orte, über welche frühere Reisende des Mährchenhaften so viel berichtet haben.
Sämmtliche Felseneingänge, deren man 11 unterscheidet, führen durch mehr oder minder lange Gallerien und Säulen-Vorhallen in große, kirchenähnlich geformte Säle. – Diese Tempel, mehren Gottheiten geweiht, haben eine verschiedene Weite von 100–250 Fuß und sind 40–100 Fuß hoch. Die Wände bedecken erhaben ausgehauene Bildwerke, Thaten der Götter vorstellend, die man hier verehrte. Die fast im Styl unserer ältesten Basiliken kunstvoll ausgehauenen Deckengewölbe werden in einigen der Tempel durch Pilaster, in andern durch freistehende Säulen, deren Kapitäle und Knäufe Thierhäupter sind, oder durch Elephanten, Tiger und Schlangen, als Caryatiden, getragen. In zweien überraschen den Beschauer Freskogemälde, gleich bewundernswürdig durch den Schmelz der Farben, Korrektheit der Zeichnung und verständige Gruppirung, und Zeugniß gebend von einer Kunstbildung in undenklicher Vorzeit, gegen welche die der späteren Jahrtausende, in Indien, wie in dem seiner Bildung nach von letzterm entsprossenen Aegypten, barbarisch erscheint. Diese Gemälde sind unbegreiflich gut erhalten, während die Skulpturen von der zersetzenden Luft und Feuchtigkeit so sehr gelitten haben, daß sie nur ihren Hauptumrissen nach noch einige Kenntlichkeit besitzen. Merkwürdig ist, daß die Götzenbilder zum Theil an der Stelle der Augen tiefe Aushöhlungen haben, ein Beweis, daß man, wie auch in Aegypten und später in Griechenland oft geschah, die Augäpfel, wahrscheinlich von passenderm Material, besonders einsetzte.
So viel über diese wunderbaren urältesten Denkmäler der Kunst, der Menschengeduld und des Aberglaubens im Allgemeinen: und nun noch das Nöthige zum Verständniß des Stahlstichs.
Er gibt die Ansicht von vier aus dem Felsen zu Tage ausgehauenen Tempeln, die hinter den eben beschriebenen in einem weiten, ausgehöhlten Hofe stehen, in welchen mehre Ausgänge aus den unterirdischen Verehrungsörtern führen. – Sie heißen die Tempel des Kaylus. „Worte,“ sagt Capitain Sykes, „können keine Ahndung von dem Eindruck geben, den diese stupenden, von schwachen Menschenhänden aus der Tiefe befreiten Steinmassen, welche die reichsten und prachtvollsten Skulpturen vom Fuße bis zum Scheitel bedecken, auf die Betrachtenden hervorbringen.“ Die 4 Hauptmassen des ausgegrabenen Gebirgs bilden eben so viele durch Höfe getrennte Tempel; sie sind würfelförmig, und haben 80 bis 100 Fuß Höhe, Breite und Tiefe. Vor dem größten steht ein 130 Fuß hoher Obelisk mit abgebrochener Spitze. – Von so colossalen Verhältnissen ist er, daß die bewunderten Monolithen Aegyptens, neben ihn gestellt, wie Zwerge erscheinen würden. Die Mitte des vordern Hofes nimmt ein Elephant ein, leider ganz verwittert und fast unkenntlich. Dieser größte aller Kolosse, dessen Verhältniß zur Memnonsstatüe wie 30 zu 1 ist, hat 80 Fuß Höhe. Große Bäume zwischen seinen Füßen erreichen kaum den Bauch mit ihren Gipfeln, und dünken einem niedriges Buschwerk! Auf dem Hinterhofe, zu dem ein sechzig Fuß hohes Felsenthor
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/116&oldid=- (Version vom 20.6.2024)