Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
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der Weisheit ist die Wissenschaft getreten, und der Ehre gehen die Ehren vor. Unnatur ist das goldene Kalb der Zeit, und die todte Form und das Gesetz der Regel vertreten überall Leben und Geist. In den geselligen Kreisen wie im Staate, in der Kirche wie in der Politik, in der Poesie wie in der Kunst sehen wir Convenienz, Phrasengeläute, Wortgeklingel, todte Gelehrsamkeit, Plagiarismus, Schein; – nur nicht Wahrheit. Heuchelei und Lüge ist überall und in Allem, nirgends ist weder Treu noch Gewissen. Wie könnte in einer solchen, dem grassesten Materialismus und der Unnatur knechtisch fröhnenden Zeit jene Begeisterung für die Idee des Göttlichen nur möglich gedacht werden, welche die erhabenen Gottestempel des Alterthums aufrichtete? – Was jetzt entsteht an kirchlichen Gebäuden, Großartiges und über das Gemeine und Gewöhnliche sich Erhebendes: es ist nicht das Werk wahrer Frömmigkeit; des Egoismus oder der Prachtliebe, oder der Heuchelei Werke sind’s; und auch in ihrer äußern Erscheinung bleiben sie weit hinter denen der Vorzeit zurück. Wahrhaft Bedeutendes in der Baukunst erschafft gegenwärtig nur noch der Sinn für’s Nützliche und der den Gewinn kalt berechnende Kaufmannsgeist, welcher überall die Stelle der erloschenen Begeisterung für das Höhere einnimmt. Gibt sich ja noch etwas für ein Produkt des letztern aus, so ist’s, im Leben wie in der Kunst, – Karrikatur. –
Die frühesten Sitze der deutschen Cultur, die Gegenden jenseits der Donau und am Rhein, sind vorzüglich reich an uralten Baudenkmälern zur Ehre des Allmächtigen. Der Herrlichsten eins ist der Dom in Mainz.
Mainz war eine der ersten Pflanzschulen für die Verbreitung des Christenthums in Deutschland. Schon zur Zeit Constantin’s des Großen hatte es eine christliche Gemeinde; es wurde bald darauf Metropolitanstadt der römisch-germanischen Rheinprovinz. Ihr Sprengel erstreckte sich über Straßburg, Speyer und Worms. Aber die Einfälle der Barbaren zerstörten die ersten Kirchen und von den Zeiten der Völkerwanderung (dem Verfall des römischen Westreichs) an, bis zur Mitte des 6ten Jahrhunderts blieb der bischöfliche Stuhl daselbst unbesetzt. Eine Enkelin Clodowich’s baute auf der Stelle des jetzigen Doms die erste christliche Kirche wieder, und Sidonius war ihr erster Bischof. – Bonifacius, der begeisterte Apostel zur Verbreitung des Christenthums unter den germanischen Völkern und erster Erzbischof von Mainz, erweiterte in der Mitte des 8ten Jahrhunderts die Kirche, und erwarb seinem Sprengel die Stifter Würzburg, Eichstädt, Osnabrück, Verden, Halberstadt, Fulda und Hersfeld.
Der Bau des heutigen Doms begann 990 vom Erzbischof Willigis. – Dieser Mann war selbst Baumeister, und nach löblicher Sitte der damaligen Zeit waren die Mönche und Geistlichen der ganzen Gegend, als Baubrüderschaft, (Freimauerer) verpflichtet, selbst als Werkleute am Gotteshaus zu arbeiten. So ein mächtiges Beispiel erweckte Nacheiferung unter den Layen, die Material herbei schafften, Handlangerdienste leisteten, Geld zuschossen u. s. w.; und auch so nur ist es erklärlich, daß in jener geldarmen Zeit oft an kleinen Orten Kirchen erstanden, zu deren Aufführung die Staatskräfte eines Königreichs jetzt nicht hinreichen würden. Jener damals gebaute
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/71&oldid=- (Version vom 16.6.2024)