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Seite:Meyers Universum 3. Band 1836.djvu/111

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CXIV. Die Ruinen von Tyrus.




Ermüdet von dem unablässigen Eroberungs- und Verwüstungsstreben der Nationen, welches die alte Geschichte in Blut taucht, verweilen wir gern bei dem Andenken eines Volkes, welches nicht durch das Schwert, sondern durch die Werkzeuge friedlicher Kunst seine Größe gebaut hat.

Klein von Umfang war das Reich der Phönizier! Eine kaum 250 Geviertmeilen große, unfruchtbare Küstenstrecke Syriens machte ihr ganzes Gebiet aus; aber durch den Vorsprung, den sie vor allen andern Nationen im Handelsruhme und in allen Künsten des Friedens gewannen, machten sie ihr kleines Reich zu einem der merkwürdigsten auf Erden.

Schon zu den Zeiten Jacobs glänzte Sidon, das phönizische Stammhaus; aber in den Tagen Josua’s war Tyrus größer, welches unter allen phönizischen Städten den geräumigsten und sichersten Hafen hatte, und die unternehmendsten und kühnsten Seefahrer besaß. Es zog den Reichthum in überschwenglicher Fülle an sich. Nicht blos die Produkte der einheimischen Industrie sammelten sich dort zur Ausfuhr, sondern auch die Erzeugnisse Aegyptens, Arabiens, (durch die Vermittlung Petra’s), Indiens, China’s, der taurischen, kaukasischen und nordischen Länder, der Küstengebiete des mittelländischen Meers, und alles Das, was kleinasiatischer und syrischer Kunstfleiß hervorbrachte. Von hier aus gelangte es weiter zu allen Völkern von Afrika und Europa, die durch die Phönizier die Bequemlichkeiten und feinern Bedürfnisse des Lebens kennen lernten, und von der Rohheit und tiefsten Barbarei zu humaner Sitte und Bildung geleitet wurden. Da es oberster Staats-Grundsatz der Phönizier war, niemals gewaltsam einen Vortheil zu erlangen, so waren die Nationen, die sie besuchten, immer bereit, Kolonien und Niederlassungen des Volks bei sich aufzunehmen, welches sie immer als ein friedlich gesinntes gekannt hatten. Schon 1500 Jahre vor unserer Zeitrechnung fingen die Auswanderungen aus Tyrus und Sidon an, und aus ihren unzähligen Niederlassungen an den Küsten des persischen und arabischen Meerbusens, Griechenlands, Siciliens, Frankreichs, Spaniens, Nord- und Westafrikas, und auf den Inseln des Archipels, ergoß sich ringsum eine Fülle des Lichts und des Lebens. Tyrer gründeten in Aegypten selbst eine Niederlassung im innern Lande, und ein ganzes Quartier des königlichen Memphis war von ihnen bewohnt. Ja, unter den Auspizien des ägyptischen Königs Necho sollen sie sogar Afrika umschifft haben, und gewiß ist, daß ihre Karavanen die große Wüste durchdrangen und die Völker und Städte am Niger besuchten. – Alle Niederlassungen durften sich frei zu selbstständigen Gemeinwesen ausbilden (denn das Mutterland forderte keine Abhängigkeit), und aus mehren entkeimten im Laufe der Jahrhunderte, als längst ein grausames Verhängniß die Mutterstädte zertrümmert hatte, mächtige Reiche; z. B. Carthago.