Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band | |
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der große Gesetzgeber soll sie gegründet haben. Die Schönheit der Natur in diesem Thale geht über alle Vorstellung. Ein Gehölz von prächtigen Palmen und schlanken Nadelbäumen beschattet die Oase, und eine Gebirgsmauer von licht-rothem Porphyr schützt sie vor brennenden Winden. Klare Bäche durchrieseln üppige Wiesengründe, und unter den breitschattenden Bäumen rauchen kleine, mit Gärtchen umgebene, arabische Wohnungen. Heerden von Dromedaren und Ziegen weiden, und eine unzählige Menge Rebhühner sind so zahm, daß man sie häufig mit Stöcken erreichen kann. Es ist das Eden der Wüste.
Drei volle Stunden lang ist diese Oase, die in einem Akaziengehölze endigt, in dessen Nähe wilde Beduinen einige Grotten zu Wohnungen eingerichtet haben. – Von da an wird der Weg sehr beschwerlich. Immer bergan gehend versperren große Felsblöcke bei jedem Schritte den Pfad. Er wird zuletzt so steil, daß die Reisenden absteigen und ihre Dromedare beim Zügel führen müssen. Nach 5stündigem, unaufhörlichem Steigen wird eine Hochebene erreicht: die nämliche, wo die Israeliten lagerten und dem goldenen Kalbe opferten, während Moses auf der Spitze des Berges war, des Berges, dessen bloßer Name hinreicht, in der Erinnerung jedes Lesers unvergeßlich eingeprägte Züge aufzufrischen und seinen Geist in die Tiefe der heiligen Geschichte zu tauchen. Der Sinai – eine ungeheuere Granitmasse, die den Himmel selbst zu tragen scheint – tritt hervor in seiner zermalmenden Majestät.
Die Ebene verengt sich zu einem Thale, weiterhin zu einer Schlucht, deren Mitte das berühmte Katharinenkloster einnimmt; dasselbe, welches seit 14 Jahrhunderten gegen christliche Pilger Gastfreundschaft übt. Es ist ein festes, citadellenartiges Gebäude, umgeben von hohen Mauern. Thüren hat es nicht, um es vor Ueberfall und Plünderung besser zu schützen. Man steigt zu einer, in 20 Fuß Höhe angebrachten Maueröffnung auf einer Strickleiter hinan. Ein großer Garten, ebenfalls mit hohen Mauern eingefaßt, aus denen sich einige Cypressen erheben, macht den Vorbau.
Die Brüderschaft besteht aus dreißig griechischen Mönchen. Ihre Regel ist sehr streng, und sie essen niemals Fleisch. Der Gottesdienst währt Tag und Nacht. Die Mönche wechseln bei demselben ab, und alle häuslichen Verrichtungen gehen ebenfalls reihum. Die Kirche ist schön, und eine Kapelle schließt den Ort ein, wo der „feurige Busch“ gestanden haben soll, in dem der Herr dem Moses erschienen war. Man nährt sich ihm nur auf den Knieen und barfuß. – Der Klostergarten ist groß, vortrefflich bewirthschaftet und trägt das köstlichste Obst.
Gleich hinter dem Kloster steigt man zu dem durch die biblische Geschichte geheiligten Theile der Sinaigruppe auf. Diese besteht aus zwei an einander gränzenden Höhen, oder vielmehr aus einem Gebirge mit zwei Gipfeln, welche die Araber als Gabel Mousa (Mosesberg) und Gabel Katarin (Katharinenberg) unterscheiden. Nach der Volks-Tradition ist der erstere der eigentliche Sinai, der letztere der Horeb, wo Moses die göttliche Berufung zu seinem großen Werke empfing. Dieser wird vom Kloster aus vorzugsweise bestiegen. Es gingen sonst
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1837, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_4._Band_1837.djvu/219&oldid=- (Version vom 7.10.2024)