Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band | |
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Ireland’s Gestade sind der classische Boden der schauerlich wilden Natur. Dort findet man jene großartigen Szenerien, welche die eigenthümliche Art schwermüthiger Begeisterung erwecken, von der die alt-irischen Weisen wiedertönen, die Gesänge Ossian’s.
Die Küste von Antrim im Nordwesten Ireland’s ist besonders reich an Schätzen wunderbarer Schönheit. Sie sind außerhalb England wenig bekannt; denn fremde Touristen werden selten in diesen verlassenen Winkel der Erde verschlagen, welcher Eulen und Seemöven mehr als den Menschen angehört, dessen wilde Herrlichkeit aber seines Gleichen nicht hat. Man denke sich ein Gestade, 400 bis 800 Fuß hoch, eine Riesenmauer von schwarzem Basalt, welche in ungeheuerm Halbkreise das Meer umgürtet. Ihre Zinnen sind verfallen, und das schäumende Element hat ihren Fuß ausgehöhlt zu tiefen Grotten, oder ihn auf die seltsamste Weise zerklüftet. Hie und da sind ganze Strecken eingestürzt, und gewundene, zerrissene, kohlschwarze Felsen, voll tiefer Höhlen, in welche das Meer unaufhörlich hineinbricht, ragen, als ihre letzten Trümmer, hoch aus den Fluthen, welche mit unbeschreiblicher Kraft Schaumwolken bis auf die höchsten Gipfel schleudern. Reiht man dazu das klägliche, gellend den Sturm durchtönende Geschrei der ängstlich umherflatternden Seevögel und die gänzliche Abgeschiedenheit, welche noch unheimlicher wird durch eine endlose Fernsicht auf das Meer, wo dann und wann ein weißes Segel wie ein Geist vorüber schwebt: so wird man eine schwache Vorstellung von einer Naturszene haben, von der man sich nicht leicht einen genügenden Begriff machen kann.
Carrik-o-Reede ist der Name des Felsen, welcher, durch eine 100 Fuß breite Schlucht von der Küste getrennt, den Vordergrund unseres schönen Stahlstichs ausfüllt. Er hat eine Viertelstunde im Umfang, und eine Seilbrücke dient, um vom Lande hinüber zu kommen, wenn die Fischer während des hier reichen Lachsfangs in den Höhlen und Grotten ihre Netze legen, oder um die Nester der Seevögel aufzusuchen, die in großer Menge hier horsten. Immergrüne Matten bedecken die Oberfläche der Felsen und einige Schaafe finden den ganzen Sommer über reiche Nahrung. An einer vor Wind und Wetter geschützten Stelle steht eine kleine Hütte; sie dient dem Hirten zur einsamen Wohnung. –
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1837, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_4._Band_1837.djvu/34&oldid=- (Version vom 9.9.2024)